Kommunalwahlen in Niedersachsen: Lokale Politik braucht Schutz
Bedrohungen und Aggressionen nehmen zu. Deshalb sollen Privatadressen auf Wahllisten nicht mehr auftauchen, fordern die Grünen.
Arnd Focke (SPD), ehrenamtlicher Bürgermeister von Estorf im Kreis Nienburg in Niedersachsen, trat 2019 zurück, nachdem sein Auto mit Hakenkreuzen beschmiert worden war und in seinem Briefkasten Botschaften gelegen hatten, in denen von „vergasen“ die Rede war.
Kurz vor Weihnachten 2019 explodierte das Auto von Helma Spöring, parteilose Bürgermeisterin von Walsrode, auf deren Grundstück. Belit Onay (Grüne) erhält seit seiner Wahl zum Oberbürgermeister der Stadt Hannover im November 2019 Drohbriefe und Hassmails, in denen er und seine Familie bedroht werden. Und auf das Haus des Oberbürgermeisters Oliver Junk (CDU) in Goslar flogen im Februar 2020 Farbbeutel.
Das sind nur einige Beispiele für Angriffe auf Lokalpolitiker*innen aus Norddeutschland. Erst seit September 2019 werden solche Vorfälle systematisch erfasst, aktuelle Zahlen sind noch in der Auswertung. Die aktuellsten Zahlen stammen aus dem April 2020, als das Justizministerium – ausgerechnet auf Anfrage der AfD – eine erste Auswertung veröffentlichte: 684 Ermittlungsverfahren waren es allein im ersten halben Jahr der Erfassung. Und die Staatsangehörigkeit der Tatverdächtigen, die die AfD ganz besonders interessierte: Zu fast 80 Prozent deutsch.
Nicht immer politische Motive
Vor dem Eindruck der Mordanschläge auf Henriette Reker in Köln und Walter Lübcke in Hessen hatten nicht wenige die eskalierenden Debatten in den sozialen Netzwerken, vor allem rund ums Flüchtlingsthema, verantwortlich gemacht.
Aber es stecken nicht immer politische Motive dahinter. Umfragen in verschiedenen Bundesländern zeigen immer wieder, dass auch persönliche Motive eine Rolle spielen – dass Konflikte um Bußgelder, Gebührenbescheide oder Baugenehmigungen eskalieren.
Auch hier gibt es ein frühes Beispiel aus Niedersachsen: 2013 wurde in Hameln der Landrat und Ex-LKA-Chef Rüdiger Butte erschossen – Auslöser waren der drohende Führerschein- und Wohnungsverlust bei dem Täter, der sich anschließend selbst erschoss.
Die Statistik des niedersächsischen Justizministeriums umfasst daneben weitere, ähnlich gelagerte Delikte: Auseinandersetzungen mit Sanitäter*innen, Feuerwehrleuten, aber auch Polizist*innen beispielsweise. Bei diesen Gruppen gibt es allerdings im Hintergrund Arbeitgeber und/oder Institutionen, die darauf reagieren und ihre Leute entsprechend schulen und schützen können.
Daran mangelt es häufig bei ehrenamtlichen Lokalpolitiker*innen, hat eine im Januar erschienene Studie der grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung festgestellt („Beleidigt und bedroht. Arbeitsbedingungen und Gewalterfahrungen von Ratsmitgliedern in Deutschland“). Die Grünen in Niedersachsen wollen nun die bevorstehende Änderung des Kommunalwahlgesetzes nutzen, um zumindest einmal den Zwang abzuschaffen, mit einer Kandidatur auch die Privatadresse offenzulegen.
Anne Kura, Landesvorsitzende der Grünen in Niedersachsen
„Unser gesellschaftliches Gefüge basiert besonders in den Kommunen auf dem Einsatz von Menschen im Ehrenamt. Wer aber Angst um körperliche und seelische Unversehrtheit haben muss, wird sich nicht engagieren. Das dürfen wir nicht zulassen“, sagt Landesvorsitzende Anne Kura.
Auch der Niedersächsische Städtetag hat sich diese Forderung schon länger zu eigen gemacht. „Vorbild könnte die Wahlordnung für die Gemeinde- und Landkreiswahlen in Bayern sein, in der steht: ‚Die Anschrift wird nicht in die Bekanntmachung aufgenommen‘“, schreibt Pressesprecher Stefan Wittkop auf taz-Anfrage.
Die Zeit drängt allerdings: Im Sommer müssen die Parteien ihre Wahllisten aufstellen. Im Landtag wollen die Grünen darüber hinaus darauf drängen, dass sich Niedersachsen im Bundesrat für Änderungen des Melderechts einsetzt – Daten sollen nicht mehr so leicht abgefragt werden dürfen und Verstöße entschiedener geahndet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“