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KommentarGoldene Zeiten

■ Wir werden uns noch nach den Baustellen zurücksehnen

Ach, wie schön ist es, derzeit in Berlin Bankier und Journalist, wie schrecklich, Bauunternehmer und Politiker zu sein! Nun gehören Journalisten und Bankiers nicht generell zu den glücklicheren Menschen – gerade Journalisten sind nicht sehr dafür bekannt, nur das Schöne auf der Welt zu sehen, und auch Bankiers müssen stets den nächsten Börsencrash und das Abknicken des Euro wittern.

Dennoch, ein jeder Tag in Berlin zaubert derzeit ein frisches Lächeln auf ihre Gesichter, denn allmorgendlich flattert eine neue Meldung herbei: Der Umzug der Bundesregierung, so heißt es da: a) verteuert sich, b) verzögert sich oder c) verteuert sich, weil er sich verzögert (der Idealfall!).

Das bedeutet für die Journalisten: Keine mühsame Suche mehr nach Themen, kein krampfhaftes Aufblasen der 1072. Mahmals-Wortmeldung, keine anstrengende Recherche mit radebrechenden Kosovo-Albanern – die Schlagzeile schreibt sich praktisch von selbst.

Auch der Bankier muß nicht in hektische Aktivität verfallen, denn die Zeit arbeitet für ihn, jede Verzögerung beim Umzug spielt mit ziemlicher Sicherheit Münzchen in seine Tasche: Übergangsquartiere für die Abgeordneten, Sonderschichten der Bauarbeiter, höhere Zinsausgaben der öffentlichen Hand – was für ein Leben!

Aber leider hat, und das paßt hier sehr gut, jede Medaille ... und so weiter: Bauunternehmer und Politiker sind auf der unteren. Sieben Jahre hatten sie Zeit, über den Umzug nachzudenken, ihn zu planen und Milliarden auszugeben (etwa diese Reihenfolge). Es hat nicht gereicht. Die Bauunternehmer müssen nun wie winzige Feinheiten im „Plenarbereich Reichstagsgebäude“ nachbessern, den Brandschutz etwa. Und die Politiker und ihre Mitarbeiter dürfen sich ganz nah kommen: Für 4.000 Personen gibt es 2.500 Büros.

Verdienen sie Mitleid? Nein, denn am Ende werden Bauunternehmer ein dickes Portemonnaie und Politiker schicke Büros haben, während Bankiers und Journalisten mit Tränen an die goldene Zeit denken, als die News auf der Straße und der Profit im Sand der Mark lag. Doch wir alle werden sagen können: Wir sind dabeigewesen! Philipp Gessler

Bericht Seite 20

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