Kolumne Geschöpfe: Von Hölzchen auf Kätzchen
Die Kakerlake hat, wie die Ratte, nicht den besten Ruf - echte Gefahr aber droht uns nicht vom üblichen Geziefer.
Nasskalt pfiff der Wind um die Ecken, als wir zu vorgerückter Stunde aus dem Kino kamen und durch finstere Häuserschluchten nach Hause schlenderten bzw. schlichen, denn: Der Film war sehr berührend gewesen.
Arno Frank (36) ist taz-Redakteur. Er kann lesen und schreiben. In seiner Freizeit spielt er gerne Flipper, hört schlechte Musik, schaut sich gute Pornos an und raucht. Selbstgedreht, versteht sich.
Sein Thema hatte uns beide betroffen und nachdenklich gemacht. Es gibt ja so viel Elend in der Welt und auf der Leinwand. Illegale Abtreibungstristesse im kommunistischen Rumänien ("4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage"). Tragische Liebesgeschichten im besetzten Schanghai ("Gefahr und Begierde"). Tödliche Migrantenschicksale in der modernen Türkei ("Auf der anderen Seite").
Alles schwer zu Herzen gehende, nachgerade auf den Magen schlagende Schicksale, über die es sich danach auf Partys herrlich kenntnisreich parlieren lässt, wie ja heute überhaupt jeder ein geborener Filmexperte zu sein scheint.
Wir entschieden uns also für "Ratatouille", eine Trickfilmkomödie über den Versuch einer aufgeweckten Ratte, dem prekären Leben zu entkommen und in Paris als Koch zu reüssieren. Klassische Aufsteigergeschichte, rührend, leichtfüßig, heiter, flott, und am Ende meinte meine Begleiterin, nachdem sie sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln gewischt hatte, mit plötzlichem Ernst: "Die armen Ratten!" Und ich so: "Wie 'die armen Ratten'? Die waren doch alle computeranimiert " Und sie so: "Eben! Jetzt werden sich Millionen Kinder auch so niedliche Ratten wünschen. Nicht aus dem Computer, sondern aus der Tierhandlung "
Da war was dran. All die arglosen Nagetierchen, hilflos ausgeliefert den grausamen Launen der denkbar sadistischsten Bestien unter der Sonne: Kindern. Schweigend spazierten wir nebeneinander her, finstere Gedanken wälzend. "Vielleicht sollte man solche Filmchen künftig nicht im Rattenmilieu ansiedeln", schlug ich zwecks Aufheiterung der Gesamtsituation vor, "sondern in einer Kakerlaken-Clique", was meine Begleiterin mit wegwerfender Geste quittierte: "Ach, Kakerlaken, die überleben uns doch alle!"
Da war es wieder - das hartnäckigste Gerücht, seit es die Postapokalypse gibt: Wenn der Mensch verschwunden wäre, etwa nach einem Atomkrieg, würde die Erde von den Kakerlaken regiert. So wie Haie mangels Schwimmblase als bombenfest gelten, so sonnen Kakerlaken sich im Ruf, atombombenfest zu sein; wahrscheinlich mangels Charakter oder so. Es klingt halt schön gruselig, dass auf einem lebensfeindlichen Planeten ausgerechnet die lebensunwertesten Lebewesen werden schalten und walten können, wie es ihnen beliebt.
Das ist nicht der Fall. Ganz im Gegenteil. Mag sein, dass nach US-Atombombentests auf dem Bikini-Atoll noch ein paar unbeeindruckte Kakerlaken herumwuselten. Dennoch gilt: Die Gemeine Küchenschabe hat, wie andere Zivilisationsfolger auch, ihre Zukunft an die Zukunft der Menschheit gekoppelt. Nicht umsonst lebt sie überall, wo wir leben, sie braucht unsere menschliche Wärme und hat es als Vorratsschädling vor allem auf die Vorräte abgesehen. Geht irgendwann die Heizung aus, gehen in ein paar Jahrzehnten die letzten Vorräte zur Neige, dann gehts raus in die Wildnis - und dort auch der widerstandsfähigsten Kakerlake unweigerlich an den Kragen.
Vorausgesetzt freilich, dass es so was wie Kakerlaken überhaupt gibt, was hiermit vehement in Zweifel gezogen sei. Ob auf französischen Campingplätzen, schmutzigen Hinterhöfen in Boston oder heruntergekommenen Herbergen in Bombay - ich persönlich habe nie eine zu Gesicht bekommen. Sie etwa?
Möglicherweise ist die Kunde von der Kakerlake nur eine gezielte Fehlinformation, geschickt gestreut von interessierter Seite.
Wer könnte das sein? Wer ist fit für die Wildnis und wartet nur darauf, dass wir den Weg freimachen zur Weltherrschaft? Wen nähren wir nichts ahnend an unsrem Busen? Wer beobachtet uns aus kalten Augen und nächster Nähe? Wer streicht uns scheinheilig, geduldig lauernd um die Beine? Wahrlich, ich sage euch: Vergesst die Gemeinen Küchenschaben - behaltet mir die miesen Miezekatzen im Auge!
Fragen zum Kakerlak? kolumne@taz.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“