Kolumne Die eine Frage: Deshalb betet er für die Kanzlerin
Soll man die AfD entlarven? Ein erschütternder Abend mit Winfried Kretschmann im baden-württembergischen Wahlkampf.
D ann holt der baden-württembergische Ministerpräsident kurz aus, um den Rahmen der globalen Flüchtlingsdynamik zu benennen – und da setzt ein Grummeln und Brummeln im Saal ein. Begrenzte Steuerungsmöglichkeiten, lange Prozesse, das wollen manche einfach nicht hören, und nicht alle sind AfD-Claqueure.
Das sind so etwa 700 Leute im Mozartsaal der Stuttgarter Liederhalle bei der Wahlveranstaltung der Stuttgarter Nachrichten. Keine rassistischen Zwischenrufe oder Ausfälle. Trotzdem ist es ein erschütterndes Erlebnis. Das Erschütternde ist die Ahnung, wie nah alles an der Kante ist, bei manchen und damit für alle.
Ministerpräsident Kretschmann und die anderen Spitzenkandidaten der Landtagswahl sollen die AfD „entlarven“. Deren Spitzenkandidat Jörg Meuthen agiert auf Grundlage seines Professorentitels und ohne das rechtspopulistische Vokabular einiger Parteifreunde als ehrbarer Missverstandener. Tenor: Flüchtlingskritisch? Klar, aber das sind andere ja auch. Man kann ihn nicht stellen, er ist immer schon weg.
Einige Bundesgrüne versuchen ja nicht nur die AfD, sondern auch die CSU und ihren Ministerpräsidenten Seehofer als „Ermunterer des Mobs“ und „rechte Hetzer“ zu entlarven, ganz besonders eifernde sogar den grünen Parteikollegen Palmer. Die grundsätzliche Frage ist, was man damit erreichen will. Wird damit im grünen Sinne die Welt besser? Werden dadurch Menschen überzeugt und in der Mitte gehalten, wird der Rechtsruck verhindert?
Montags baden Frauen, zum FKK-Schwimmen kommen Schwule und abends duschen Flüchtlinge. Im Stadtbad Berlin-Neukölln hat jede Gruppe ihre eigene Zeit. Wie sollen wir zusammen leben, wenn wir nicht zusammen planschen können? Dieser Frage gehen wir nach in der taz.am wochenende vom 27./28. Februar 2016. Außerdem: Die Feministin Laurie Penny im Gespräch über die Macht von Science-Fiction und die Schwierigkeit, ein Vorbild zu sein. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Ja, es ist für Menschen mit einer anderen politischen Position manchmal nicht einfach, Seehofer und seine Politik- und Machterhaltungstrategien auszuhalten. Aber er ist und bleibt ein Demokrat. Er ist einer von uns. Und nicht einer von denen. Grüne, die Demokraten an den rechten Rand schieben, stärken nicht die Demokratie, sondern den rechten Rand. Das ist fahrlässig.
Merkels grüner Stalker
Als der AfD-Themenblock beendet ist, will plötzlich auch der CDU-Kandidat Guido Wolf mitreden und nennt den Ministerpräsidenten den „großen Kanzlerinnen-Versteher“. Kretschmann sei Merkels grüner „Stalker“, hat man in seiner Landtagsfraktion gehöhnt, und dass er für sie betet, wird in allen Lagern belächelt. Dann soll Kretschmann antworten.
„Was mich umtreibt, was auch die Kanzlerin umtreibt“, sagt er leise: „dass Europa an der Flüchtlingsfrage zerbrechen könnte.“ Das Grummeln und Brummeln erstirbt. „Wer, um Gottes Willen, soll denn Europa zusammenhalten, wenn nicht die Kanzlerin?“, sagt Kretschmann noch leiser. „Deshalb habe ich gesagt, ich bete jeden Tag für die Kanzlerin.“
Jetzt hat er sie. Es ist Wahlkampf, es ist eine Showveranstaltung, aber sie nehmen ihm ab, dass das hier keine Show ist, sondern todernst. Erst ist es ganz still, dann bricht Beifall los, der größte des ganzen Abends. Von da an hören sie ihm zu.
Was ich sagen will: Rassisten wählen Rassisten. Das wird durch „Entlarvung“ nicht geändert, sondern bestätigt. Es gibt eine emphatische Bürgergesellschaft aus Grünen-, CDU- und SPD-Wählern, die teilweise aktiv engagiert ist. Aber es gibt jenseits der Grünen-Wähler Menschen, die sich schwer damit tun, dass alles sehr kompliziert ist, dass es nur europäisch geht, dass dieser Krieg im Nahen Osten auch ihrer sein soll.
Es hilft nicht, denen zu sagen, dass sie in die Hölle kommen, wenn sie AfD wählen. Moralische Scharfrichter sind Spalter. In dem Grummeln und Brummeln einer zum Teil hyperventilierenden Gesellschaft muss man mit seinen Worten und mit seiner Politik so verantwortungsvoll umgehen, dass der ganze Laden zusammengehalten wird.
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