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Kolumne Barbaren in BeijingUnter seelenlosen Monstern

Bei den Olympischen Spielen wimmelt es von Liebes-, Herz- und Schmerzgeschichten. Doch keiner weint mit.

Kann ich Ihnen helfen? Neben mir steht eine junge Frau aus der Heerschar der Olympia-Volunteers. Sie hält mir ein Taschentuch hin. Dankbar nehme ich es entgegen. Es ist doch gar nicht so schlimm, sagt sie. Ja ich weiß, entgegne ich, aber ich kann einfach nicht anders. Ich sehe mich um im Saal der Pressekonferenz. Seelenlose Monster müssen das sein, denke ich und wundere mich über meine Kollegen. Warum bin ich der Einzige, der nicht an sich halten kann, frage ich mich. Gerade hat ein amerikanischer Schwimmer erzählt, dass er kurz vor den Spielen an Hodenkrebs erkrankt ist. Seine Ärzte wollten ihn umgehend operieren, doch er ließ sich seinen Traum von Olympia nicht zerstören. Der kranke Mann schwimmt mit.

Schon ein paar Mal saß ich in Pressekonferenzen und habe mich gewundert, dass niemand mit mir weint. Da war der amerikanische Schütze, der vor vier Jahren Olympiasieger geworden wäre, hätte er nicht auf die Scheibe seines Nebenmanns gezielt - und sogar getroffen. Am Tag des Fehlschusses wurde er von einer jungen Tschechin getröstet. Die ist jetzt seine Frau und wurde gerade Olympiasiegerin. Tränen tropfen auf die Tastatur, während ich dies schreibe. In Peking wimmelt es von Liebes-, Herz- und Schmerzgeschichten. Einer wird vom Bürgerkriegsopfer zum Fahnenträger, ein anderer war kurzzeitig gelähmt und spielt heute um Medaillen mit. Gerade habe ich mit einem ehemaligen Turner gesprochen, der im Rollstuhl sitzt, seit er vom Turngerät gestürzt ist. Er versucht sich seinen Olympiatraum als TV-Co-Moderator zu erfüllen.

Bild: taz

Andreas Rüttenauer ist Redakteur bei taz-Leibesübungen.

Wie schrecklich normal bin ich dagegen doch. Das ärgert mich. Nichts habe ich erlebt, womit ich andere bewegen könnte. Ich war nie schwer krank, habe keinen Krieg überlebt, nicht einmal aus der DDR stamme ich. Andere haben wenigstens eine unglückliche Kindheit gehabt, konnten später dicke Bücher darüber schreiben und werden ewiglich berühmt sein. Wie gerne würde ich anderen feuchte Augen bereiten mit meiner Lebensgeschichte. Ich könnte lange Jahre Analphabet gewesen sein, einer, der sich als Autodidakt das Schreiben selbst beigebracht hat und mittlerweile sogar davon lebt, obwohl ihm Ärzte bis heute eine unheilbare Lese-Rechtschreib-Schwäche attestieren. Aber ich bin es nicht. Vielleicht, so frage ich mich, bin ich zu normal, um all die herzzerreißenden Geschichten ertragen zu können, die mir hier erzählt werden.

Ich muss dringend zum nächsten Termin und winke mir ein Taxi heran. Ich versuche dem Fahrer zu erklären, wo ich hinmöchte. Vergeblich. Er macht eine Geste, schreibt mit dem Finger durch die Luft. Will er mir vielleicht bedeuten, dass ich ihm das Fahrtziel aufschreiben soll? Auf Chinesisch? Am Abend werde ich erzählen, wie ich dann doch noch zur Badmintonhalle gefunden habe. Als sprachloser Analphabet. Ist das nicht auch eine schöne Herz-Schmerz-Geschichte? Oder bin ich immer noch normal?

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