Kollektiver Individualismus: Für ein gramscianisches Miteinander

Öko-Rechthaberei ist unpolitisch. Wer sich selbst als links bezeichnet, muss auch liberale Interessen aushalten und respektieren.

Foto vom blumengeschmückten Grab Gramscis, um 90 Grad auf die Seite gedreht

Hat sich gerade im Grab umgedreht: Antonio Gramsci (Cimitero acattolico in Rom) Foto: Raoul Spada

taz lab, 31.03.2023 | Von JAN FEDDERSEN

Wie bitte, Antonio Gramsci sei kein Liberaler gewesen? Nicht im Wortsinn, stimmt. Aber im heutigen Verständnis müsste er als solcher gelten: Der italienische Kommunist, der in seiner Vorstellung von kultureller Hegemonie – also der tonangebenden Gemütslage in einer Gesellschaft – immer das „Volk“ meinte, nie nur eine Szene von Eingeweihten, war ein Denker, der niemals „Degrowth“ oder „Postwachstum“ auch nur näherungsweise als linke Idee verstanden hätte.

Portrait Jan Feddersen

Jan Feddersen, Jahrgang 1957, ist taz lab-Kurator, Redakteur für besondere Aufgaben und verantwortlich für weitere publizistische Projekte der taz. Foto: Anke Phoebe Peters

Er hätte gewusst, dass, wer noch nichts hat, haben möchte: Materielles, soziale Sicherheit, aber auch persönlich behagliche Umstände. Gramsci hätte niemals, wie das Grüne manchmal nicht nur insgeheim fantasieren, die FDP gehasst.

Er hätte deren In­di­vi­dua­lis­t*in­nen umarmt und gewusst, dass alle ihre eigenen Interessen hegen – und diese Interessen, auch des liberalen Gegenübers, ernst genommen und falls nötig weitgehenden Kompromissen zugestimmt. Wer aus grüner Perspektive den porscherasenden Liberalismus verabscheut, hat sich schon längst aus den Sphären des Politischen zurückgezogen. Er oder sie oder * würden dann zwar recht haben, aber mehr auch nicht.

Grüne oder Linke, die auf Gramsci halten, respektieren Autos und ihre Liebhaber*innen, auch Autobahnen – und erzählen nicht unentwegt, wie schlimm alles noch werden würde, wenn man nicht sofort folgt. Das wäre kein gramscianisches Miteinander. Demokratisch sowieso nicht, sondern Befehl und Gehorsam nach ökologischem Muster.

Links ist, wer das Andere aushält
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Gramsci verstand seinen kollektiven Volkswillen übrigens nicht als kollektivierend, sondern als Ausdruck von individuellen Eigensinnformationen, falls man dieses Wort mal so erfinden darf: Ohne liberale Gemütslagen, ohne ein Aushalten des anderen, der nicht so denkt wie man selbst, gibt es nichts Linkes.

Linke ohne politisch-kulturelle Großzügigkeit sind im Kern nichts als Sta­li­nis­t*in­nen in neuen Kleidern, nicht einmal glamourös in der Aura, viel zu streng, als dass man ihnen in Massen die Herzen zufliegen lassen möchte – die Zeiten frömmlerischster Ökorechthaberei sind doch passé, sie haben einfach nie Anklang gefunden.