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Kollektive Amnesie am Werk

■ betr.: „Verderbt uns nicht die Party“ von Michael Rutschky, tazmag 2./3./4. 10. 98

Michael Rutschky bringt es auf den Punkt. Erschienen die Kernaussagen des Artikels in etwas leichter verdaulicher Form an Stellen, die durch eine größere Leserschaft Beachtung finden, wäre dies zwar keine „Wunderwaffe gegen die Enttäuschungsgifte“, könnte sich aber dennoch als wirksam erweisen. Felix Salfner, Berlin

[...] Woran ich mich bei Rutschky störe, ist 1. die Undifferenziertheit gegenüber den objektiven Bedingungen der 80er Jahre, die neuerdings als beschaulich, beschränkt, wollmützig beschrieben werden. Wer sich selbst, wie berechtigt auch immer, im nachhinein so sieht, hat noch kein Recht, dieses Urteil der ganzen Epoche auszusprechen. Mir scheint da etwas wie kollektive Amnesie am Werk. Um es trivial zu sagen: Die ökologische Bedrohung ist keine Illusion, sondern real, ebensowenig war die Kriegsgefahr des Kalten Krieges Anfang der 80er eine Illusion. Bloß weil man die damals modische vulgärmarxistische oder romantische Deutung heute für Unsinn halten muß, verschwinden doch die Phänomene nicht. Thema wäre doch, warum diese nur teilweise überwundenen Krisen so gern verdrängt werden. Ich glaube nicht, daß die Essayisten uns dazu schon alles gesagt haben.

2. Am schlimmsten finde ich das totale Verdikt über die Personen und ihre Ideen. Viele der Bewegten von damals sind meines Erachtens traumatisiert aus dieser Erfahrung mit ihrer Mischung ideologischen Unsinns und durchaus auch erfolgreichen Engagements hervorgegangen. Eine noch so kleine Würdigung dieser Bemühungen fehlt. Immerhin wurde die Kriegsgefahr nicht von Kohl und Nachrüstung alleine in Abrüstung verwandelt, globale ökonomische und ökologische Fragen wurden nicht von allein zum Kernthema. Wir sahen uns durch die Wiedervereinigung, Golfkrieg und jugoslawischen Bürgerkrieg um die Früchte betrogen – unserer Träumereien und unserer Arbeit.

Rutschky, so nehme ich an, billigt sich selbst sicherlich zu, trotz seiner 68er Macken geliebt, gearbeitet und Sinn erzeugt zu haben – er billigt sich das zu, aber im Modus der Exklusivität. Seine Vernunft ist exklusiv, dumm sind wir anderen, mit denen abgerechnet wird, anstatt uns zu sagen: „Ihr wart okay, aber dieses und jenes stimmte nicht, das Leben geht aber weiter, machen wir also was daraus.“ Aber wir sind nicht mehr fein genug, man schließt jetzt lieber elitäre Bündnisse mit Systemtheorie und ihrer sakralen Semantik oder dem wirren Zeug der Konstruktivisten – nach gescheitertem Engagement nun der Rückzug ins Unverständliche.

Larmoyanz und elitäres Gehabe tragen wenig bei zum Verständnis der letzten 30 Jahre, aber viel zur eigenen Beruhigung. Man gebärdet sich heute lieber, wie einst Carl Schmitt nach der Befreiung vom NS-Regime, in wüsten Tiraden, bloß behielt Schmitt diese zu Lebzeiten wenigstens für sich. Rolf Hiemer, Tübingen

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