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Kohls unselige Vergleiche

■ Verhältnis zur Sowjetunion deutlich abgekühlt / Moskauer Politiker kommen nicht nach Bonn / CDU/CSU–Fraktionsvorsitzender Rühe sagt Moskau–Besuch ab

Berlin (dpa/ap/taz) - Bundeskanzler Helmut Kohl hat erneut politische Führer der Sowjetunion mit den Nationalsozialisten verglichen. Bei einer Wahlkampf– Veranstaltung am Donnerstagabend in Göttingen sagte Kohl: „Die sowjetischen Führer waren immer Realisten, das ist der entscheidende Unterschied zu den braunen Abenteurern, die von 1933 bis 1945 Deutschland regierten“. Die Nachrichtenagentur „ap“, die diesen Satz Kohls wörtlich zitierte, berichtet, Kohl habe damit den Unterschied zwischen den politischen Systemen der Sowjetunion und Nazi–Deutschlands hervorheben wollen. Auf der gleichen Veranstaltung griff Kohl auch die DDR erneut scharf an. Ostberlin halte mehr als 2000 Menschen als politische Gefangene fest. Seine Kritik an der DDR wollte er als selbstverständliche Solidarität mit jenen Deutschen verstanden wissen, die sich dort nicht äußern könnten. Kohls Ankunft in Göttingen war von einem Pfeifkonzert begleitet. Vereinzelt flogen auch Eier in Richtung Kohl. Vier Demonstranten wurden festgenommen. Der stellvertretende CDU/ CSU–Fraktionsvorsitzende Rühe hat unterdessen seinen für Sonntag geplanten Moskau–Besuch abgesagt. Offenbar hat die sowjetische Seite aus Verärgerung wegen Kohls Goebbels–Vergleich Rühe hingehalten und ihm weder Gesprächspartner noch Besuchsablauf mitgeteilt. Rühe war schon im Sommer nach Moskau eingeladen worden. Mit ihm sollten weitere CDU–Abgeordnete in die sowjetische Hauptstadt fliegen. Die Sowjets ließen am Donnerstag und Freitag den geplanten Besuch des sowjetischen Landwirtschaftsministers Murachowski und des stellvertretenden sowjetischen Ministerpräsidenten Alexej Antonow platzen, der in die Bundesrepublik kommen sollte. „Politische Umweltbelastung“ hat der Ost–Berliner SED–Bezirkschef und Politbüromitglied Günter Schabowski Bundeskanzler Helmut Kohl vorgeworfen. Dafür könne der Kanzler, der „ins Horn der Unvernunft“ stoße, keine Prämien von der DDR erwarten, sagte Schabowski in einer Rede vor dem SED–Zentralkomitee (ZK), aus der am Freitag im Parteiblatt Neues Deutschland Auszüge veröffentlicht wurden. Fortsetzung Seite 2 Kommentar Seite 4 Der SED–Spitzenpolitiker bezog sich ausdrücklich auf einen Korrespondentenbericht der amtlichen Nachrichtenagentur adn aus der vorigen Woche, in dem Kohl wegen einer Rede in Münster „unterentwickelte Geisteshal tung“ vorgehalten worden war. „So und nicht anders“ hätten „Kohls platte Schmähreden gegen die DDR pariert werden“ müssen, äußerte Schabowski. Bereitschaft zur Politik des Dialogs auch gegenüber der Bundesrepublik hatte dagegen das Politbüro in seinem von Hermann Axen am Donnerstag erstatteten Bericht an das Zentralkomitee erneut bekräftigt. Die DDR wolle auch in Zukunft den Dialog mit allen politischen Repräsentanten der Bundesrepublik führen, die dazu bereit seien und „sich von Vernunft und Realismus leiten“ ließen. Die DDR wolle „Kooperation statt Konfrontation, und das nicht nur in Worten“, sagte Axen. Am Freitag morgen, einen Tag nach seinem Göttinger Auftritt, hat sich Bundeskanzler Kohl bei einem Empfang von mehr als 100 ausländischen Diplomaten für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR ausgesprochen. Kohl ging dabei nicht auf seine letzten Angriffe gegen die DDR und die Sowjetunion ein. Kohl lobte die „Impulse von Reykjavik“ und sprach den Wunsch nach einem Neuanfang der West–Ost–Beziehungen an.

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