: Körper und Leuchtkörper
Filmregisseur Peter Greenaway als Gastkurator im Rotterdamer Museum Boymans ■ Von Jochen Becker
Peter Greenaway, dessen strukturalistische Spielfilme von überaus artifizellen Bildern leben, erhielt vom Rotterdamer Museum Boymans-van Beuningen die Einladung, aus dem Bestand der breitgefächerten Sammlung eine eigene Ausstellung zusammenzufügen. Zwei Dinge fallen bei Greenaways erstaunlicher Inszenierung des Depots mit dem Titel The Physical Self in dem großen, abgedunkelten Saal sofort ins Auge. Zum einen stehen und liegen unter fahlem Licht und auf vier erhöhte Glasvitrinen verteilt nackte Männer und Frauen. Zum anderen ist die beinahe wandfüllende und auffällig beleuchtete Benetton-Reklame mit dem Foto eines noch nicht abgenabelten und blutverschmierten Neugeborenen angebracht.
Schon beim Betreten des Raumes provoziert die Ausstellung eine sofortige Polarisierung des Betrachters: Schaut man hin — oder weg; gehört dies ins Museum — oder nicht; akzeptiere ich den kräftigen Auftritt — oder fühle ich mich überrumpelt. Im Unterschied zur üblichen Festbeleuchtung geweißter Ausstellungskästen herrscht das Halbdunkel des Theaters vor, aus dem die Exponate — beispielsweise das Gemälde eines Tischs von Gerhard Richter — dank exakt abgezirkelter Scheinwerfer herausleuchten. Nicht selten wird nur ein bestimmter Bereich des Bildes mittels Spotlicht akzentuiert. Greenaway, der hierzu die Decke des Ausstellungsraums mit Gestängen und Bühnenleuchten neu ausstaffieren mußte, leitet so die Aufmerksamkeit auf dem Weg zu seinen Exponaten. Doch im Unterschied zum Theaterregisseur Robert Wilson, der in letzter Zeit ebenfalls Ausstellungen (allerdings eigener Arbeiten) mit Leuchtkörpern und Klangeinspielungen inszeniert, scheint Greenaway hierbei weniger an atmosphärischen Stimmungen interessiert zu sein. Vielmehr konzentriert er sich, ganz im Dienste des Themas „menschlicher Körper“, auf den Bildgegenstand.
Die moderne Kunstgeschichte verpönt eine Reduktion der Gemälde und Zeichnungen auf den zweidimensional abgebildeten Gegenstand: Nicht Cézannes Äpfel, sondern deren formale Gestaltung und der Farbauftrag sind von Bedeutung. Peter Greenaway setzt sich darüber hinweg und folgte bei seiner persönlichen Sammlung den Sujets der Bilder. So steht ein merkwürdiges Objekt von Jim Dine vor allem deshalb in der Sektion Körperfunktionen, weil es aus Stoff nachgebildete Würste beinhaltet.
Gar nicht so merkwürdig wirkt die epochenübergreifende Kombination von Nackten und Fahrrädern, Ölschinken mit einer Kollektion von Stiften oder Kämmen, Reklame und filigrane Zeichnungen: Was sonst vielleicht als Beliebigkeit abgetan würde, gewinnt durch Greenaways exemplarische Einbindung — als Teil eines größeren Ganzen — erhöhte Aufmerksamkeit. Mit dem flackernd-rötlichen Licht einer mittels Scheinwerfer simulierten Feuerstelle verknüpft und belebt er eine Kollektion von Tontöpfen, zwischen denen eine einsame Teflonpfanne steht. Wie im Völkerkundemuseum etabliert der britische Regisseur zu den Kunstwerken, Gebrauchsgegenständen und sogar zum realen menschlichen Körper eine befremdlich machende Distanz. Der abendländische Mensch wird wie eine vom Aussterben bedrohte Gattung unter den Überschriften Mutter und Kind, Alter, Mann und Frau oder Hände beziehungsweise Füße von Greenaway in mehreren Etappen untersucht. Die Bildwerke an der Wand lassen, wie Höhlenmalerei, Rückschlüsse auf die Kunstfertigkeit ihrer Produzenten zu und erschließen deren Lebensumstände. Kunstwerke sind — genauso wie etwa Stifte oder Töpfe — hier ausgebreitet als Artefakte und Zeugnisse menschlicher Produktion.
Freude bereitet die Ausstellung durch das sorgfältige und abwechslungsreiche Arrangement der Beispiele. Durch wellenförmige Lichtreflexionen im verdeckt gehaltenen Wasserbad oder von unten her flammender Beleuchtung leben alte Bilder neu auf. In der Abteilung Füße hängt eine Wand voller Schuhe, vor die mit Abstandhaltern das Magritte- Gemälde eines Fußes montiert ist, so wie gegenüberliegend John Coplands Fotografie von Händen durch schätzungsweise 200 Paar Handschuhen eingefaßt wird. Und unter den Büsten findet man neben allerlei Historischem etwa Kurt Waldheim oder ein von Hans-Peter Feldmann knatschbunt kolorierten Cäsar-Gipskopf.
Der von Greenaway in Rotterdam beschrittene Grad — zwischen Lichtzauber und Peinlichkeit, Vermischtem aus dem Depotbestand gegenüber anerkannten Kunstwerken oder die skandalumwitterte Präsentation realer Nackter neben Säuglingen als Werbeträger — bleibt ausbalanciert. Nach anfänglicher Scham vor den Nackten kommen nun einige Besucher mit dem Zeichenblock und nutzen diese als kostenlose Aktmodelle (fotografieren bleibt untersagt). So wie Benetton — durch Doppelnutzung des Neugeborenen als aktuelles Statement zur Abtreibungsdebatte und als Werbeträger für wärmende Kleidung — sowohl die zeitgenössische Kunstfotografie als auch die Lifestyle-Werbung altbacken aussehen läßt, so demonstriert die Ausstellung The Physical Self eine Generalüberholung der Funktion und Bedeutung des Museums. Die Präsentationsformen in Utrecht und Rotterdam fügen den bestehenden Artefakten keine neuen hinzu, sondern knüpfen mit dem Bestehenden neue Beziehung. Dieser Recycling-Vorgang ist — sieht man von Michael Fehrs Themenausstellung im Hagener Osthaus-Museum einmal ab — im hiesigen Raum ungebräuchlich. Hingegen wurden neuerdings in den USA ganze Epochen, Sammlungen und Genres unter dem Schlachtruf „Dekonstruktion des Museums“ umgestoßen und neu vermessen. Gerade Greenaways Vorgehen, alles aus dem Depot hervorzustöbern und vollständig auszubreiten, was zu seinem Thema passen könnte, veranschaulicht nämlich auch die Schwächen und Auslassungen einer Sammlung: Unter den aufgereihten Fahrrädern findet man entweder historische Exemplare oder futuristische Designermodelle — ein ganz alltägliche Zweirad sucht man im Depot des Instituts wohl vergebens.
Peter Greenaway: The Physical Self , Ausstellung im Rotterdamer Museum Boymans-van Beuningen, noch bis zum 12.Januar.
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