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Archiv-Artikel

Kochkurse im ehrenwerten Haus

Die Historikerin Sybille Buske beschreibt den gesellschaftlichen Umgang mit unehelichen Müttern: „Fräulein Mutter und ihr Bastard“

VON FRANK LÜBBERDING

Im Jahre 1975 suchte Udo Jürgens eine Wohnung. Bis dahin wohnte er, sang er in seinem Song, in einem „ehrenwerten Haus“. Er und seine Lebensgefährtin mussten raus: „Die Gemeinschaft aller Mieter schreibt uns nun: Ziehen sie hier aus, denn eine wilde Ehe passt nicht in dieses ehrenwerte Haus.“ Der Schlagersänger glossierte hier die Hegemonie eines Begriffs, der uns heute seltsam fremd vorkommt: Sittlichkeit. Heute sind solche Mietergemeinschaften nur noch selten ein Problem. Wer hat schon etwas gegen wilde Ehen?

Dieser Begriff der Sittlichkeit ist nun die zentrale Kategorie in dem Buch „Fräulein Mutter und ihr Bastard“ der Freiburger Historikerin Sybille Buske. Sie beschreibt darin den Wandel des Unehelichenrechts in Deutschland von 1900 bis 1970. Unehelichkeit galt bis weit in das letzte Jahrhundert hinein als ein Stigma. Die Mütter galten als gefallene Mädchen, die für ihre moralischen Verfehlungen einen Preis in Form der Ächtung zu zahlen hatten. Sittlichkeit war dabei ein wichtiges soziales Distinktionsprinzip, so Buske, womit sich das „bürgerliche Subjekt“ zum „Maßstab des Normalen“ machte. Es grenzte sich damit gegen den Adel und gegen die Unterschichten – „und deren vermeintliche Unsittlichkeit“ – ab.

In diesem Kontext entwickelte sich der rechtliche und politische Umgang mit der Problematik unehelicher Kinder. Bis weit in die Sechzigerjahre hinein konnte man einen Widerspruch nicht lösen: Uneheliche Kinder bedeuteten den Bruch bürgerlicher Wertvorstellungen. Zugleich kritisierte man aber die prekäre Situation der betroffenen Frauen und ihrer Kinder. Eine Verbesserung ihrer Lage ist daher schon zu Beginn des Jahrhunderts Gegenstand von Reformbemühungen gewesen. Das reichte von einer Verbesserung der Unterhaltsansprüche der Mütter gegenüber den Vätern bis zu privaten Initiativen für praktische Hilfe – etwa in entsprechenden Heimen. Aber die praktische Hilfe beinhaltete zugleich die Überzeugung vom moralischen Fehlverhalten der betroffenen Frauen. Hier fand die rechtliche Gleichstellung ehelicher und unehelicher Kinder bis zu den großen Familienrechtsreformen der Siebzigerjahre ihre politischen Grenzen.

Sybille Buske reduziert aber die Problematik nicht auf die Situation der „gefallenen Mädchen“ als diskursiven Resonanzboden bürgerlicher Anständigkeit. Tatsächlich ist Unehelichkeit im Wesentlichen ein proletarisches Phänomen gewesen. Die vom Mann aus den höheren Kreisen verführte „Unschuld vom Lande“ war die Ausnahme und nicht die Regel. Hier zeigten sich auch die Grenzen bei der Durchsetzung bürgerlicher Sittlichkeitsansprüche. So war die nachträgliche Legitimation unehelicher Kinder durch eine spätere Heirat nicht ungewöhnlich. Eine Praxis, die bis in die Siebzigerjahre hinein üblich war.

Für Buske ist die rigide Durchsetzung von Sittlichkeitsansprüchen eine Folge der Herausbildung moderner Gesellschaften gewesen. Die Industriegesellschaft und die zunehmende Verstädterung schürten die Angst des Bürgertums vor der moralischen Verwahrlosung breiter Bevölkerungsschichten. Das bedeutete zugleich eine Idealisierung der Vergangenheit: „Sie [die Debatten] suggerierten, dass die Menschen in früherer Zeit in Einklang und Übereinstimmung mit sich, den gesellschaftlichen Normen und religiösen Traditionen gelebt hätten. Dieser bürgerliche Mythos bestimmt die zeitgenössische Kulturkritik.“ Die Idealisierung legitimierte die Privatisierung sozialer Probleme: Die Mütter sind für ihre Lage durch ihr sittliches Fehlverhalten selbst verantwortlich – und hatten daher auch die Konsequenzen zu tragen. Man machte Unehelichkeit für Kriminalität und andere gesellschaftliche Probleme verantwortlich. Die Stigmatisierung trat zwar nicht an die Stelle sozialpolitischer Intervention, aber sie machte aus Opfern sozialer Diskriminierung Täter – und das bestimmte den Umgang mit den Betroffenen. Es sollte Jahrzehnte dauern, diese Sichtweise zu verändern.

Heute braucht niemand mehr aus einem ehrenwerte Haus auszuziehen. Uneheliche Kinder und deren Mütter sind vom Stigma befreit worden. Für die Autorin ist das eine Folge des Demokratisierungsdiskurses seit dem Ende der Fünfzigerjahre, der die alte Sittlichkeitsdebatte abgelöst hatte. Erst dieser Wandel ermöglichte die Durchsetzung von Positionen, die schon in der Weimarer Republik diskutiert worden sind. Das mag man überzeugend finden – oder auch nicht. Aber Sybille Buske zeigt, wie Diskurse die Wahrnehmung sozialer Konflikte prägen können – und eben nicht nur die Folge ökonomischer Bedingungen sind.

Darin liegt auch die aktuelle Bedeutung des Buches. Heute erleben wir die Einführung eines neuen Sittlichkeitsdiskurses im Wechsel von einer Armuts- zur Armendebatte. Etwa wenn Renate Schmidt die Armut als Folge individuellen Fehlverhaltens definiert. So sei der Umgang der Armen mit Geld das Problem – und nicht die fehlenden finanziellen Mittel. Sie fordert daher den gesunden und billigen Eintopf statt das ungesunde und teure Schnellrestaurant. Vielleicht ordnet man im ehrenwerten Haus der Zukunft Kochkurse an. Wilde Ehen werden dabei sicherlich nicht diskriminiert. Auch ein Fortschritt.

Sybille Buske: „Fräulein Mutter und ihr Bastard. Eine Geschichte der Unehelichkeit in Deutschland 1900 bis 1970“. Wallstein Verlag, Göttingen 2004, 400 Seiten, 40 Euro