: Kobaltgrün
235 maritime Kurzgeschichten hat der mare-taz-Literaturwettbewerb erbracht. Die taz druckt die ersten Plätze ab. Heute: Platz drei, eine Kurzgeschichte von Herbert Kummetz
Kobaltgrün – gibt es das überhaupt? Und wenn ja: Wie könnte das aussehen? Diese und andere Fragen treiben die Jury des taz-mare-Literaturwettbewerbs in ihrer Endausscheidungs-Sitzung um; überflüssig zu erwähnen, dass man bezüglich des exakten Farbwerts von „Kobaltgrün“ zu keinem Ergebnis kam. Das hinderte aber niemanden daran, die Geschichte auf Platz drei des Wettbewerbs zu setzen und in der heutigen taz-Ausgabe zu drucken. Autor ist der 1945 geborene Herbert Kummetz aus Rendsburg, der die letzten 20 Jahre als evangelischer Pfarrer zubrachte. Seit vier Jahren ist er Hausmann, und demnächst steht der Umzug nach Husum an: Seine Frau hat dort Arbeit gefunden. Geschrieben hat Herbert Kummetz, seit er neun war, nach einer Ausbildung zum Chemiekaufmann hat er sich auch im Journalismus versucht. Inzwischen ist ihm das Schreiben liebstes Hobby geworden. Und er wird wohl bei der Preisverleihungs-Feier am 2. 12. auf dem Feuerschiff im Hamburger Hafen dabei sein. Lesung und Musik wird es da ab 19 Uhr geben. Einlass ist ab 18 Uhr. Wir laden herzlich ein. Mit Hinweis auf die an den beiden kommenden Samstagen gleichfalls in der taz abzudruckenden Plätze zwei und eins – wobei Platz eins zusätzlich im mare-Dezemberheft erscheint – verbleibt für heute: Die Jury
Juli, hatte sie gesagt, jetzt im Juli. Mit meinem Freund bin ich ab heute für den Rest des Monats weg. Wir haben ein Häuschen am Strand. Aber ich komme wieder. Ich vergesse Sie nicht. Er konnte ihrem Blick nicht ausweichen, und sie musste ihn angelächelt haben, denn neben ihren wasserblauen Augen meinte er winzige Fältchen bemerkt zu haben. Es fiel ihm immer noch schwer, einem Menschen in die Augen blicken zu können. Sie beugte sich zum Abschluss über das Bett, um das verrutschte Gummituch wieder festzustecken. Er starrte dabei auf ihren Rücken, auf jene winzige Erhebung mit den vier Höckerchen, die man hätte tasten können durch ihre sommerzarte Bluse hindurch, und dann auch auf jenes blausilberne Bändchen, das sich eng an ihre Rippen presste und zu beiden Seiten des Körpers weit unter den Achselhöhlen nach vorne verschwand.
Als sie die Tür geschlossen hatte und er allein war, dachte er nicht mehr ans Sterben. Er dachte ans Meer. Mit Isa vorsichtig in die glatte See hineingestakt, mit Isa die Brandung entlanggeflogen. Mit Isa im Dünensand, bestreut und berieselt, ihre Bändchen im Rücken waren von leichtem Gelb mit einer feinen rötlichen Naht oben und unten und die Erhebung mit den Schließhäkchen war ganz einfach zu bedienen, ganz einfach - und was hatte er sich vorher darüber für einen Kopf gemacht. Nachher waren sie furchtbar sandig, ganz und gar von oben bis unten, und fühlten sich lebensgesättigt für diesen Tag, sie spielten ein altes Pärchen. Sie schlüpften in ihre Sachen, er machte den Kavalier und hielt ihr das große Badehandtuch als Ankleidekabine.
Ach, Isa.
Er drehte sich vorsichtig, das Gummituch war ihm jetzt peinlicher als irgendwas. Ihm fielen die Tiefen ihrer orangefarbenen Reisetasche ein, aus denen sie eine unaussprechliche Unterlage hervorzog, als sie die Betten im Ferienhaus zurechtmachte. Das muss ja nicht alles in die Betten gehen, war ihr Kommentar. Er war dabei schrecklich verlegen geworden. Zunächst weil er kaum ahnte, was sie mit „alles“ meinte, und dann, als er es ahnte, stieg eine Röte in beiden Ohren auf und eine Stummheit angesichts des Unaussprechlichen befiel ihn, von der er zeitlebens nicht geheilt werden sollte. In der allzu langen Ehe später gab es ab und an solche Peinlichkeiten, erst recht in den drei Schwangerschaften. Frauen sind irgendwie peinlich, war er überzeugt.
Juli, er hatte das Wort von vorhin wiedergefunden. Juli, weg sein, Fahrt ans Meer. Ob Isa wasserblaue Augen gehabt hatte? Er entsann sich keines Moments, ihr voll in die Augen geschaut zu haben. Schade, er bedauerte sich für einen Augenblick. Ob sie ihm in die Augen geschaut hatte? Er wünschte es in diesem Moment mit aller Kraft seines alten Herzens. Wenn sie es nur getan hätte. Er setzte zum Seufzen an, obwohl ihm dabei das Bauchfell weh tat, das hatte er schon ausprobiert. Aber es muss geseufzt werden. Zu ihrem kastanienfarbenen Haar hätte ein Kobaltgrün gut gepasst. Wenn er damals meinte, über Isa Auskunft geben zu müssen, dann hatte er stets mit Kobaltgrün als Augenfarbe angegeben. Er fühlte sich vom Meer zu den wildesten Phantasien ermächtigt. Wenn sie am späten Vormittag durch den Sand schlurften, erklärte er nebenbei das Leben. Isa hätte es genügt, einfach durch den Sand zu schlurfen, soweit ging seine Vermutung später, als sie sich getrennt hatten. Bald referierte er vor ihr auch über die Gezeiten, heimlich hatte er sich schlau gemacht in einem Heftchen für Touristen. Das wäre nicht nötig gewesen, Isa behauptete zu wissen, wie das Blut mit dem Mond gehe, alles andere wäre dann ja auch klar.
Isa sammelte keine Muscheln wie er. Sie hatte auch keine Lust auf Sandbauten.
Es genügte ihr, in der Sonne zu liegen, sie war glücklich, in das An- und Abschwellen des Rauschens und Brandens hineinzuhorchen. Wenn sie mit ihm schlief, musste sie es so ähnlich empfunden haben, hatte er sich immer einmal wieder gesagt, aber das war erst viel, viel später, als es eine Isa in seinem aktuellen Leben nicht mehr gab. Ein Vierteljahr nach dem Urlaub am Meer waren sie nicht mehr zusammen.
Isa meldete sich Jahre später mit einem seltsamen Kartengruß von einer Nordseeinsel, sie musste seine Adresse mühsam ausgegraben haben, nach all den Jahren, Internet hilft. Er las, dass sie sich an jene Tage am Meer erinnert habe. An den Nachmittag in den Dünen und wie er ihr das Leben erklärt habe und die Gezeiten. Und dass sie viel gelernt habe über den Mann und das Meer. Er hielt die Karte vor seiner Frau versteckt. Wochen danach verbrannte er sie über einem Aschenbecher in der Kantine. Seitdem fühlte er, ein Unrecht begangen zu haben. Es begannen die Jahre, in denen sie niemals mehr zum Strandurlaub aufbrachen. Er entdeckte das Allgäu, wie er wissen ließ. Er sammelte Ansichtskarten von Neuschwanstein, ein Spezialist ohnegleichen, hieß es in Expertenkreisen.
Seine Kinder hatten eine Karte aus der Sammlung gerahmt und ihm mitgebracht, bald nachdem er ins Heim gekommen war. Sie hing knapp über dem Bett. Wie er diese Karte hasste. Er könnte mit den Armen herumfuchteln und dann die Karte dabei treffen. Und dann klingeln. Vielleicht ist sie ja noch nicht den Rest des Monats weg in ihrem Häuschen am Strand. Sie würde kommen und die Scherben auffegen. Und er würde ihr sagen, dass auch er ein ganz großer Liebhaber des Meeres ist und dass sie bestimmt gut ist in einem solchen Häuschen am Strand, so gut wie Isa es auch war. Und dass er ganz scharf ist auf wasserblaue Augen, es müssten ja nicht unbedingt kobaltgrüne sein. Da wäre er tolerant.