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■ Wider die Jeremiaden nach Jelzins Sieg:Kleine Ratschläge

Am Tag nach der Schlacht ums Weiße Haus erklingen die Zukunftsprognosen für Jelzins Rußland hierzulande in dunklem, elegischem Moll. „Unruhe und Ungewißheit“ quält die Kommentatoren (und das nicht nur in der FAZ, dem Zentralorgan fürs Jammern & Greinen): Mal ist es die Armee, mal die Passivität der Massen, mal sind es die Regionen, die Rußlands Gulliver einschnüren und an der befreienden Aktion hindern werden. Nichts gegen realistische Szenarien, aber dieses Kondensat tausendmal gehörter Allgemeinplätze über die russische Krise verfehlt nicht nicht nur die Wirklichkeit des Landes, sondern verstellt gerade den Blick dafür, was Jelzin und die Seinen jetzt tatsächlich tun könnten und sollten.

Leichter als das Tun fällt in der Regel das Unterlassen — es kommt auch meist billiger. Der siegreiche Staatschef sollte jeder Versuchung widerstehen, die Geschlagenen bis zu jenem Grad der Demütigung zu verfolgen, der für die russische Autokratie so charakteristisch ist. Die Führer der Revolte, die immerhin für den Tod einiger hundert Menschen verantwortlich sind, sollten ein faires Gerichtsverfahren erhalten, den Rest sollte man laufen lassen. Zeitungs- und Parteienverbote sollten nur befristet gelten, sie sind ohnehin nicht effektiv. Jelzin sollte sich hüten, jeglicher oppositioneller Regung den spitzen rotbrauen Hut aufzusetzen. Nicht alle Abgeordneten der „Bürgerunion“ etwa sind durch allzu enge Tuchfühlung mit der „Nationalen Befreiungsfront“ kompromittiert. Das Jelzin-Team wäre gut beraten, wenn es nach der alten Kadarschen Maxime „Wer nicht gegen uns ist, ist für uns“ verfahren und dem Zelotentum enge Grenzen setzen würde. Am Umgang mit den Medien schließlich wird sich schnell erweisen, ob in den russischen Demokraten mehr steckt als das „gewendete“ realsozialistische Erbe der Unduldsamkeit und des Monopols auf Wahrheit.

„Der gegenwärtige Zustand des Staates ist es, der das größte Hindernis für die Begründung der Marktökonomie in Rußland darstellt“ — so Premier Tschenomyrdin vor einigen Wochen. Die Auflösung des Volksdeputiertenkongresses eröffnet den Weg nicht nur für Wahlen, sondern auch für eine neue Verfassung. Nun ist es möglich, einen Modus für die Verabschiedung der in Aussicht genommenen Präsidialverfassung zu finden. Noch wichtiger: Es kann jetzt durch Verhandlungen mit den Föderationsrepubliken, Autonomien und Gebieten ein Kompromiß gefunden werden, der die komplizierten, noch offenen Fragen der Kompetenzabgrenzung, des Ein- und Austritts, der Aufteilung des Steueraufkommens einschließt. „Die Provinz“, schreibt Karl Schlögel, „ist der Hort der Stabilität, den das Land braucht, um anderswo die Instabilitäten meistern zu können. In der Ungleichzeitigkeit liegt die Garantie für den Übergang von der einen in die andere Zeit, ohne daß es zum großen Knall kommt.“ Die Provinz, sie ist nicht nur zurückgeblieben, stagnierend, ist nicht nur die Beute rivalisierender neuer und alter Machteliten. Die in ihr verborgenen „Reserven“ der Stabilität kann Jelzin nutzen, wenn er in der schon weit vorangetriebenen Verfassungsdiskussion den Maximen der Dezentralisierung und Demokratisierung treu bleibt, unter denen er 1991 angetreten ist. Christian Semler

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