: Kleine Menschen: „Wir sind voll da“
Bundestreffen der Vereinigung Kleiner Leute in Saarbrücken / Vor 20 Jahren haben sich die Kleinwüchsigen zusammengeschlossen / Kampf gegen Vorurteile und Isolation / Fünf Tage lang Erfahrungsaustausch und Kontaktpflege ■ Aus Saarbrücken Konrad Götz
„Paß auf“, sagt Uta und lacht, „ich erklär Dir, wie man als kleiner Mensch ein öffentliches Telefon bedient: Zuerst wirfst Du von unten den Hörer von der Gabel und läßt ihn baumeln. Dann nimmst Du die Groschen zwischen die Zähne, gehst mit den Knien auf die Ablage, suchst mit den Händen irgendwo Halt und ziehst Dich hoch. Jetzt einhändig festhalten, mit der anderen Hand Geld aus dem Mund nehmen, einwerfen. Dann wählen, möglichst ohne abzustürzen. Wegen kurzer Reichweite der Arme von oben nach dem Freizeichen lauschen, wenn es da ist, runtersteigen und telefonieren.“
Uta (26) ist Teilnehmerin des Bundestreffens der „Vereinigung Kleiner Leute“ (VKL), das gestern in Saarbrücken zu Ende ging. Fünf Tage lang hatten sich 100 Frauen und Männer getroffen, um Erfahrungen auszutauschen und Seminare abzuhalten. Die Vereinigung konnte dieses Mal ein Jubiläum feiern: Im historischen Jahr 1968 haben sich die kleinwüchsigen Menschen zusammengeschlossen, um aus der Isolation zu treten. 60- bis 80.000 Menschen gibt es in der Bundesrepublik, deren Wachstum stark unter der Norm geblieben ist. Der Pressesprecher der VKL, Otto Engel, erläutert: Behindert fühlen sich die kleinwüchsigen Menschen primär durch die Ignoranz der Normmenschen einer Gesellschaft, die die eigene Größe für das Maß aller Dinge halten. Notrufsäulen, Fahrstuhlknöpfe, Zugtreppen, Lichtschalter, Haltegriffe sind für kleine Erwachsene genauso wie für Kinder („das sind unsere natürlichen Verbündeten“) - nicht erreichbar.
Es wäre überhaupt nicht schwierig, erklärt Uta, diese Hilfsmittel der praktischen Lebenswelt so anzubringen, daß sie für kleine und große, für Behinderte und Nichtbehinderte nutzbar wären. Lösungen wie Extratelefonzelle, lehnt sie ab, weil sie die Funktion haben, den Normmenschen die Konfrontation mit der abweichenden Realität zu ersparen. Diese Verweigerung des Kontakts hat zur Folge, daß immer wieder Mythen und Märchen über die kleinen Menschen kolportiert werden. Durch mehrfachen Einspruch des Verbandes wurde der Begriff „Zwergwuchs“ aus der ärztlichen Standesdiktion getilgt und durch „Kleinwuchs“ ersetzt. Größere Schwierigkeiten bereiten Eltern, die ihren Kindern immer noch den Unsinn vom „Liliputaner“ zuflüstern. „Das klingt“, sagt Otto Engel, „als wären wir ein Art eigene Rasse.“ Es gibt 25 verschiedene Ursachen des Minderwuchses, zwei Erscheinungsformen dominieren. Die erste Variante entsteht durch einen Mangel des in der Hirnanhangdrüse (Hypophyse) hergestellten Wachstumshormons. Die zweite Form ist der sogenannte unproportionierte Kleinwuchs. Die Betroffenen haben besonders kurze, oft gekrümmte Arme und Beine. Für diese Gruppe sind hohe Bürgersteigkanten, Treppen, Bahnen und Busse besonders schwierig zu erklimmen.
Während sich die Kleinwüchsigen zur Überwindung solcher Hindernisse längst Hilfsmittel ersonnen und Fähigkeiten angeeignet haben, sind die Barrieren in den Köpfen der Mitmenschen schwerer zu beseitigen. Viele Arbeitgeber weigern sich, Menschen mit der Größe eines zehnjährigen Kindes einzustellen. Sie glauben, diese würden weniger leisten und wissen und werden zudem für unselbstäntig und hilfsbedürftig gehalten. „Da läuft immer wieder die Assoziationskette klein gleich dumm gleich schwach ab“, berichtet Otto Engel aus eigener Erfahrung. „Aber in Wirklichkeit schaffen wir alles, und wir sind geistig voll da - einem Computer ist es völlig egal, ob der Programmierer groß oder klein ist.“
Nicht alle kleinwüchsigen Menschen haben ein so ungebrochenes Selbstbewußtsein. „Sehr viele von uns verstecken sich zu Hause“, erklärt die Psychologin Ortrun Schott. Viele Eltern kleinwüchsiger Kinder, berichtet sie, machen den Fehler, ihren Nachwuchs zu verhätscheln. So werden die Kinder zu realitätsuntüchtigen Paschas oder Prinzeßchen erzogen, die zu Hause bleiben, sich nicht selbst versorgen und durchsetzen können. Damit solche Fehler vermieden werden können, ist die Elternberatung ein Schwerpunkt der Arbeit des Verbandes. Den Heranwachsenden rät Frau Schott: „Geht raus aus der Familie, lernt damit umzugehen - auch wenn ihr blöd angeschaut werdet konfrontiert euch!“
Menschen, die von anderen ständig ignoriert werden, weil sie nicht dem gängigen Bild von Schönheit und Harmonie entsprechen, müssen viel mehr als andere in der Lage sein, aktiv Beziehungen aufzunehmen. „Wenn wir das nicht können, geraten wir in einen fatalen Passivitätskreislauf, am Ende schieben wir jeden Mißerfolg auf den Körperwuchs und beginnen uns selbst zu hassen. Selbstliebe ist aber die Voraussetzung für gute Beziehungen.“
Es geschieht jedoch sehr selten, daß zwischen groß- und kleinwüchsigen Menschen Partnerschaften entstehen. Daher ist es wichtige, daß die kleinen Menschen untereinander Kontakt und Freundschaftsmöglichkeiten schaffen. Und so ging der Jubiläums-Kongreß mit einer rauschenden Ballnacht zu Ende.
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