Klagenfurter Literaturtage: Wettlesen auf Bildkacheln
Viel Gegenwart steckte nicht in den Texten, dafür umso mehr Familiengeschichten. Der Ingeborg-Bachmann-Preis 2021 geht an Nava Ebrahimi.
Was wollen die Texte? Häufig zu viel! Das ist der Eindruck, den man in den Jurydiskussionen des diesjährigen Bachmannpreises gewinnen konnte. Nicht immer deckt sich der Anspruch der Texte, politische Zustände zu analysieren, mit der Fähigkeit der Autoren, das souverän und zugleich subtil durchzuarbeiten. Da wird den Autoren schon mal vorgeworfen, ihre Texte hätten checklistenartig alle Themen abgeliefert, die beim Bachmannwettlesen eben ankommen – Diaspora, Kleinstadtmief und Hunde –, seien kalkuliert, aber literarisch wenig pointiert.
Daher verwundert es kaum, dass in diesem Jahr mit dem Text von Nava Ebrahimi ein eher tastender Text von der Jury ausgezeichnet wurde. Einer, der gar nicht erst vorgibt, alle Antworten auf die Fragen der Zeit zu liefern. Der aber sehr wohl davon zeugt, dass sich „im Raum der Literatur Ausdrucksmöglichkeiten öffnen“, wie es auch Juror Klaus Kastberger formuliert, der Ebrahimi nach Klagenfurt einlud.
Ebrahimis Text handelt vom Besuch einer Protagonistin bei ihrem Cousin in den USA. Es ist ein Text, so betont es auch Insa Wilke, der von der Unmöglichkeit der Verständigung erzählt: „Mein Cousin und ich, wir haben noch nie darüber geredet. Wir haben es noch nicht einmal versucht.“ Das Gespräch zwischen Familienmitgliedern wird als Kammerspiel inszeniert. Der Cousin durchtanzt den Dialog, so als könne er sich jeder sprachlichen Festlegung gleichsam mit einem Tanzschritt entziehen.
Auf die eine oder andere Art dominieren also Familiengeschichten, die von der Suche nach Verständigung zwischen den Generationen erzählen, den Wettbewerb. Nirgends eine unbarmherzige Abrechnung, keine Neurosen, eher steht das Zuviel an Geschichte und Schweigen, das die kulturellen Verstrickungen der Familie bewirken, im Vordergrund.
Die weiteren Preisträger
Wenig überraschend, dass die jüngste Autorin des diesjährigen Wettlesens, Dana Vowinckel, in gleich zwei Stichwahlen antritt – neben dem Hauptpreis auch in der Stichwahl für den Deutschlandfunkpreis, in der sie gegen Necati Öziri gewinnt. Vowinckel überzeugt mit einem in dualer Perspektive erzählten Text über Vater und Tochter im liberalen Judentum zwischen Deutschland, den USA und Israel.
Tatsächlich hatte man beide Autoren nach ihrer Lesung auf der Favoritenliste, auch deshalb, weil sich bei Öziri ein mit großem literarischem Vorbild spielender, buchstäblich theatralischer Text mit einer an rhythmischen Sprechgesang erinnernden Vortragsweise mischte, wofür er sehr verdient mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet wurde. Öziri performt den Text wie ein Rapper, der erhobene Zeigefinger tippt wie ein Metronom, rhythmisiert die Lesung.
Die pandemische Gesamtlage machte auch in diesem Jahr die Abwesenheit der Autoren bei der eigentlichen Lesung notwendig. Gelesen wurde in vorproduzierten Videos. Die Räume, in denen die Autoren lesen, sind bühnenhaft ausstaffiert. In der Hälfte der Videos hängt eine Bachmannpreis-Umhängetasche im Bild, man fragt sich doch, wer auf die Idee mit dem, ähm, pfiffigen Accessoire kam.
Die Autoren, die in Privaträumen lesen, zeigen eine sorgsam mit den Zeichen bildungsbürgerlicher Kleinweltläufigkeit ausstaffierte Welt: Bücherwände, Originalgrafiken. Betont lässig, hier und da hängt ein Bild schief.
Lesungen im Splitscreen-Modus
Die gefilmten Lesungen nutzen einen Splitscreen-Modus: Wir sehen die Autoren gleichzeitig im Porträt, Brustbild und mit Fokus auf die Hände, die Texte halten – interessanterweise stets gedruckte Texte, niemand wischt auf einem Tablet herum. Bei der Vorführung der Lesung werden wiederum die Autoren zugeschaltet, die nun vor heimischer Kulisse, weniger inszeniert, sich selbst beim Lesen lauschen. Was ein wenig schizophren anmutet, ist doch auch ein schönes Bild für Autorschaft im 21. Jahrhundert, die sich medienbasiert bei der eigenen Inszenierung beobachtet.
Und dann springen die Juroren ins Bild, die tatsächlich anwesend sind. Unfreiwillig komisch wirkt die Zusammenführung der Bildkacheln der Juroren in einem Bild wie bei „The Brady Bunch“, es fehlt nur, dass der eine aus seiner Kachel auf die andere herabschaut. Fein austariert sind die Rollen der Juroren.
In der diesjährigen Bachmann-Jury übernimmt Philipp Tingler die Rolle des Exekutanten, der auch schon mal symbolisch Text und Autor enthauptet, wenn er einen völligen Mangel an Transzendenz bescheinigt. Tingler, der sich mit Klaus Kastberger und Insa Wilke gerne einmal Frotzeleien liefert, gibt den Kritiker im unterhaltsamen, wenn auch bösen GIF-Format. „Oh mein Gott!“
Überhaupt, die Rollen, die hier gespielt werden! Mara Delius zeigt sich als mit allen Mitteln der Litergeschichte gewaschene Kritikerin, die die eigene Kritik stilistisch pointiert vorträgt, während Insa Wilke die Ärmel hochkrempelt – buchstäblich – und zur Verteidigung von Autorinnen in den Ring springt. „Langweilig! Proseminar!“, ruft Tingler in den Raum, während Insa Wilke sich bemüht, doch noch einmal ganz grundlegend nach den Möglichkeiten der Literatur zu fragen.
Interessant auch die Rolle Kastbergers, der charmant grantelnd kommentiert, während Brigitte Schwens-Harrant ohne viel Prätention und Selbstdarstellung eine sozusagen nahbare Literaturkritik verkörpert. Eine Joker-Rolle hat Vea Kaiser, die mal begeistert von Texten schwärmt, nur um beim nächsten ganz grundlegend, unerwartet harsch abzuurteilen.
Zum Schreien komisch wird es, wenn Kastberger bemerkt, Julia Webers Text sei der beste, den Juror Michael Wiederstein je nominiert habe – was freilich nicht viel heiße, aber immerhin. Wiederstein verzichtet auf allzu viel Selbstdarstellung oder drakonische Urteile – vielleicht erscheinen sie auch nur sanfter, weil mit sonorer Stimme vorgetragen.
Menschlich-gemeiner Austausch
Man genießt es, der Literaturkritik live zuzuschauen, auch weil es sonst so wenig Raum gibt für den menschlich-gemeinen Austausch zwischen den Kritikern, dem in Klagenfurt offensichtlich der Vorrang vor Live-Autorenlesungen eingeräumt wird. Das Grandiose an Klagenfurt ist doch, dass hier Kritiker, so sehr sie auch auf ästhetische Kategorien verweisen, immer auch Geschmacksurteile fällen und damit zeigen, dass die Frage nach der guten Literatur so eindeutig nicht zu beantworten ist.
Nicht zu Unrecht fällt wiederholt die Bemerkung, derselbe Text hätte so oder so ähnlich auch vor 30 Jahren gelesen werden können. Viel Gegenwart steckte nicht in dieser Literatur. Es ist ja bedeutsam, dass Autoren, die ihre bildtechnische Inszenierung offensichtlich am Social-Media-Bildkachel-Zeitalter geschult haben, eben dieses weitestgehend in ihren Texten ausblenden. Die textuelle Betulichkeit, die Langsamkeit und Getragenheit des Diktums, die irgendwie aufs Schreibmaschinenzeitalter zu verweisen scheint, nicht auf die pointierte Kürze und elliptische Engführung des Twitter-Zeitalters – wie soll man sie deuten? Nun kann Literatur den Zeitgeist unterwandern, vielleicht sollte sie dabei aber das mediale Umfeld der Textproduktion nicht unterschlagen?
In Julia Webers Wettbewerbstext sagt Protagonistin Ruth zur Erzählerin: „… manchmal käme ihr das ganze Leben vor wie das Abtrocknen feuchter Hände an einem feuchten Handtuch.“ Vielleicht hat Weber damit ein treffendes Bild für Gegenwartsliteratur gefunden.
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