: „Klagen Sie doch vor dem Verfassungsgericht!“
■ Die Debatte der Bundestagssondersitzung zur Haushaltskrise war routiniert, das Abstimmungsergebnis vorherzusehen. Und die Präsidentin stöhnt: „Was für ein Theater!“
Bonn (taz) – Die Abstimmung bei der von der SPD beantragten Sondersitzung des Bundestages war soeben zu Ende gegangen. Mit den Stimmen der Koalitionsparteien hatte der Bundestag erwartungsgemäß die Feststellung abgelehnt, daß „das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gestört ist“. Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth hatte die Sitzung gerade geschlossen. Das Mikrofon war noch nicht abgeschaltet. Und so war ihr Stoßseufzer deutlich zu hören: „Was für ein Theater!“
Finanzminister Theo Waigel schien die Sondersitzung des Bundestages dagegen auf die leichte Schulter zu nehmen. „Ich war sowieso gerade in Bonn und hatte heute nachmittag nichts Besseres zu tun“, sagte er auf dem Weg zum Bundestag. In einer emotionsgeladenen Debatte, die von der Koalition schon im Vorfeld als „reine Schauveranstaltung“ abgetan worden war, rechtfertigte Waigel das Haushaltsloch in Milliardenhöhe dann mit der Feststellung, daß die SPD daran schuld sei. Der Fraktionssprecher der Bündnisgrünen, Joschka Fischer, konterte für die Opposition: „Wir wären gern so mächtig, wie Sie behaupten.“
Eigentlich sollte es in der gestrigen Sondersitzung hauptsächlich darum gehen, festzustellen, ob die Regierung die Kreditobergrenze nach Art. 115 Grundgesetz unzulässig überschritten hat. Waigel mußte einräumen, daß statt einer geplanten Nettokreditaufnahme von 59,5 Milliarden Mark die Neuverschuldung in diesem Jahr bei über 70 Milliarden Mark liegen wird. Die SPD meint, die Entscheidung für eine so hohe Neuverschuldung stehe nur dem Bundestag, nicht der Regierung zu.
Außerdem sollte darüber debattiert werden, ob darüber hinaus ein Verstoß gegen Art. 110 Grundgesetz erfolgt ist. Art. 110 bestimmt, daß alle zu erwartenden Einnahmen und voraussichtlichen Ausgaben wahrheitsgemäß zu veranschlagen sind. Die SPD behauptet, daß Finanzminister Waigel schon bei der Aufstellung des Haushaltsplans 1996 gewußt habe, daß die angesetzten Privatisierungserlöse in Höhe von 9 Milliarden Mark nicht zu erzielen und Mehrausgaben an die Bundesanstalt für Arbeit nötig seien.
Doch sowohl die Oppositions- als auch die Koalitionsparteien gingen eher am Rande auf diese Punkte ein. Nach Waigels Ansicht bezieht sich die Kreditobergrenze des Art. 115 auf die Haushaltsaufstellung – und damals hätten die konjunkturellen Daten den Haushaltsplan gerechtfertigt. Zu Art. 110 erklärte Waigel: „Laut Bundeshaushaltsordnung können verbrauchte Kreditermächtigungen der vergangenen Jahre zur Deckung von Ausgaben des laufenden Jahres herangezogen werden.“ Dabei handele es sich um etwa 24 Milliarden Mark. „Klagen Sie doch vor dem Bundesverfassungsgericht!“ rief Waigel siegessicher.
Lügen, Chaos und Hinters-Licht-Führen
SPD-Fraktionschef Rudolf Scharping nutzte die Sondersitzung vor allem für eine Generalabrechung mit der Koalition und insbesondere mit dem Finanzminister. „Unter dieser Regierung ist das Lügen und Hinters-Licht-Führen zur ständigen Übung geworden“, sagte Scharping. Er erinnerte an das Versprechen von Bundeskanzler Helmut Kohl, daß die Wiedervereinigung nicht mit einer Steuererhöhung finanziert würde, und nannte dies den „größten Steuerbetrug in der Geschichte der Bundesrepublik“. Er kritisierte das Hickhack um den Solidaritätszuschlag. Waigel warf er vor, Politik nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu machen. Zur Freistellung des Existenzminimums sowie der Einführung der Zinsabschlagsteuer sei er erst durch das Karlsruher Gericht gezwungen worden. „Dies ist eine Koalition des Chaos und des Streits!“ rief Scharping aus.
Waigel wiederum warf der SPD vor, durch ihre „Blockadepolitik im Bundesrat“ für die Haushaltsmisere verantwortlich zu sein. Ohne den Widerstand der SPD bei der Bezugsdauer und Mißbrauchsbekämpfung von Arbeitslosenhilfe sowie gegen Einsparungen bei Asylbewerbern habe die Opposition ein Entlastungsvolumen von rund 6 Milliarden Mark, bezogen auf das Jahr 1996, blockiert. Waigel rechtfertigte die Haushaltslage mit enormen Kosten der vergangenen Jahre. So etwa für die Bewältigung der deutschen Einheit (Transferleistung 1997: 81 Milliarden Mark), die Finanzierung des Wegfalls des Kohlepfennigs (8 Milliarden) sowie die zweite Stufe der Bahnreform (6 Milliarden). Joschka Fischer tat Waigels Rede mit drei Worten ab: „Angstbeißen aus Ratlosigkeit“. Markus Franz
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