Klage gegen Israels Justizreform: Countdown in Jerusalem
Am Obersten Gericht entlarven Regierungsangehörige ihr Verständnis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Eine Gewaltenteilung gehört nicht dazu.
E s ist der Auftakt zur entscheidenden Phase im Streit über Israels Justizreform. Die 15 Richter und Richterinnen des Obersten Gerichtshofs in Jerusalem treten zusammen, um zu einer Entscheidung über Petitionen gegen die umstrittene Gesetzesreform zu beraten. Gleich zu Beginn geht es um die eigenen Befugnisse, um die Aufhebung der sogenannten Aufhebungsklausel bei unangemessenen Gesetzen.
Schon im Vorfeld signalisierten Regierungsangehörige, dass sie eine eventuelle Aufhebung der Aufhebungsklausel nicht akzeptieren würden. Selbst Regierungschef Benjamin Netanjahu verweigerte die Zusage, sich an die richterliche Entscheidung zu halten, egal wie sie auch ausfalle. Wenn Regierungsangehörige und Abgeordnete richterliche Entscheidungen nicht mehr akzeptieren, warum sollte das sonst noch jemand tun?
Vor den 15 Richtern und Richterinnen liegt eine Entscheidung mit historischer Tragweite. Das Oberste Gericht spielt in Israel eine vergleichsweise wichtige Rolle, denn es gibt weder eine zweite Kammer noch eine Verfassung. Ein souveränes Gericht ist eine der Säulen der Gewaltenteilung und Demokratie. Nicht ohne Grund dauern die Massenproteste seit Anfang des Jahres unverändert heftig an.
Eine Aufhebung der als Grundgesetz beschlossenen Einschränkung der Angemessenheitsklausel wäre allerdings ein nie dagewesener Eingriff des Gerichts. Und eine Staatskrise wäre die sichere Folge. Wer dem Plädoyer des Knessetabgeordneten Simcha Rothman vor Gericht zuhörte, musste den Eindruck bekommen, dass Demokratie für ihn etwas sehr Einfaches ist. Wichtig sei zuallererst „das Volk“, sagte er und meinte damit mindestens 50 Prozent der Wahlberechtigten.
Schräges Demokratieverständnis
Dieses Demokratieverständnis ist mehr als naiv. Bei der Anhörung am Dienstag machten die Vertreter der Regierung und des Parlaments wiederholt deutlich, dass fundamentale demokratische Elemente wie Gewaltenteilung sowie Menschen- und Minderheitenrechte für sie wenig zählen. Auf die Fragen der Richter, wie die Regierung künftig den Missbrauch von Macht verhindern möchte, blieben sie die Antworten schuldig.
Die Möglichkeit einer Verfassungskrise mit gänzlich unbekanntem Ausgang sorgt bei vielen Menschen in Israel für berechtigte Angst. Die Vorstellung, den Demokratieabbau hinnehmen zu müssen, allerdings nicht weniger. Immer häufiger ist daher auf den Protesten Zustimmung für ein Eingreifen der Richter zu hören, und ihre Entscheidung als Chance für einen Neustart der Verhandlungen über die Zukunft der israelischen Demokratie zu nutzen. Das wäre der richtige Weg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“