ALLES TIEFERGELEGT : Kissen küssen
In den renovierten Toiletten der Volksbühne gibt es neue Handtuchspender mit Aufklebern vom Robert-Koch-Institut. „Hände verbreiten Krankheitserreger. Richtig waschen schützt“. Wie das geht, erfährt man auch: Hände unter fließendes Wasser halten, Seife 20 bis 30 Sekunden in den Händen verreiben – auch zwischen den Fingern. Der Selbstversuch klappt nicht ganz, die Seife ist gerade alle.
Im Zuschauerraum sind die Stühle verschwunden. Wer sitzen will, muss auf gefüllten Säcken herumlümmeln. Dafür riechen die Sitzkissen dezent nach Vanille, wer weiß, vielleicht sind sie mit exotischem Duftreis gefüllt. Für die anstehende Dokumentation über die Hamburger Band Station 17 geht das in Ordnung, 90 Minuten in Bodennähe kann man aushalten. Gezeigt wird die Entstehung ihres neuesten Albums, „Goldstein Variationen“, bei dem Gastmusiker wie Michael Rother, Fettes Brot, Guildo Horn oder Barbara Morgenstern mitgewirkt haben. Im Publikum sitzt eine Reihe Fans aus Hamburg, manche von ihnen sind behindert, wie ein Großteil der Bandmusiker auch.
Dem Film folgt ein Konzert der Band. Hoss Becker singt zur Eröffnung immer wieder „Aber hallo“, dann bittet er das Publikum aufzustehen und zur Bühne zu kommen. Dank der lose verteilten Kissen ist das auch kein Problem. Die meisten wollen vorne dabei sein. Wir auch. Der Klang ist zwar gnadenlos schlecht gemischt, und man kann kaum eine der Stimmen richtig hören, aber es springt auch so genug von der Energie der Band über.
Sänger Dennis Seidel ist nicht mitgekommen. Im Film konnte man ihn sehen, wie er vor einem Auftritt ein bemaltes Kissen herzt und küsst. S. klärt mich auf, dass dieses Kissen seine Freundin ist. Der Mann neben mir bekommt das mit, beugt sich herüber und verrät: „Heute braucht er kein Kissen, jetzt hat er eine Freundin.“ TIM CASPAR BOEHME