Kinotipp der Woche: Prekäre Existenzen
Der Filmkenner Jan Gympel hat in der Reihe „Schon wieder Wohnungsnot!“ Berlin-Filme aus 100 Jahren zusammengestellt.
1930 zeigt Slatan Dudow das Elend des Wohnens in Berlin. „Zeitprobleme – Wie der Arbeiter wohnt“ beginnt mit einer Texttafel, die keine Zweideutigkeiten aufkommen lässt. „In den Mietskasernen der Millionenstadt müssen sich mehrere Familien eine lichtlose, ungesunde Wohnung teilen. Feuchte Kellerwohnungen rauben dem Arbeiter die Gesundheit. Den Kindern vernichtet das Wohnungselend die Lebenskraft.“
Zwei Jahre später dreht Dudow „Kuhle Wampe“, den Klassiker des proletarischen Films der Weimarer Republik. Eine Arbeiterfamilie fliegt in der Wirtschaftskrise aus der Wohnung, zieht auf den gleichnamigen Campingplatz am Rand von Berlin. Anni (Hertha Thiele), die Tochter der Familie ist die einzige, die noch Arbeit hat.
Der Kampf ums Dach über dem Kopf – Berlin-Filme aus hundert Jahren: 18.11.-1.12., Kino in der Brotfabrik
Sie verliebt sich in den Kommunisten Fritz (Ernst Busch). Wohnungsfragen ziehen sich durch die Geschichte Berlins. Jan Gympel kennt sich in der Filmgeschichte Berlins nicht zuletzt dank seines Projektes Berlin-Film-Katalog, die versucht, alle Filme zu erfassen, die in Berlin gedreht wurden oder spielen, bestens aus.
Nun hat er für das Kino in der Brotfabrik und mit der für Filmprojekte rar gewordenen Förderung durch den Hauptstadtkulturfonds eine große Filmreihe mit dem Titel „Schon wieder Wohnungsnot!“ zusammengestellt. Die Reihe spannt einen Bogen von den späten 1920er Jahren bis in die Gegenwart, wobei ein Schwerpunkt auf den Westberliner Filmen zwischen Ende der 1960er bis Anfang der 1980er Jahre liegt.
Auf der Suche nach Wohnraum
Hans Deppe dreht 1948 seinen letzten Film für die DEFA bevor er seine Filmkarriere in Westdeutschland fortsetzt. „Die Kuckucks“ zeigt fünf Geschwister, Mutter tot, Vater seit dem Krieg vermisst, auf der Suche nach Wohnraum. Wieder und wieder fliegen die Fünf ihren Untermietverhältnissen, bis sie schließlich zu fünft in einem einzigen Zimmer leben, mit einer bitter gewordenen Vermieterin, die im Flur patrouilliert.
Der taz plan erscheint auf taz.de/tazplan und immer Mittwochs und Freitags in der Printausgabe der taz.
Durch Zufall stoßen sie auf eine leerstehende Villa, die sie sich mit Einwilligung des Besitzers zum Wohnen herrichten. Deppes Film ist ein Trümmerschwank, der am besten dann funktioniert, wenn sich alle möglichst wenig bewegen.
Schnelle Bewegungen bringen Deppe schnell an seine inszenatorischen Grenzen oder wie der Spiegel anlässlich von Deppes nächstem Film schreiben sollte: „Regie: Hans Deppe, Altmeister-Fachmann für schlichte Filmgeschichten mit kunstvoll eingefädelten Pseudo-Komplikationen, milden Scherzen und herzigen Untertönen“.
1968/69 porträtieren Roland Hehn, Klaus Wildenhahn, Horst Schwaab in „Der Reifenschneider und seine Frau“ eine prekäre Existenz auf einer der vielen Brachen der Westberliner Nachkriegszeit. Schorsch Markgraf und Hilde Brahms leben vom Verkauf gebrauchter Reifen von Autos und Lastwagen. Gegen Ende wird „Der Reifenschneider“ doch noch zum „1968“-Film als Markgraf kommentierend am Rande einer Demonstration der Studierendenbewegung steht.
Selbstorganisation im Neubauviertel
Gleich zwei Programme widmet die Reihe den Auseinandersetzungen über das Märkische Viertel. Thomas Hartwig und Jean-François Le Moign zeigen in „Wir wollen Blumen und Märchen bauen“ (1970) die Diskussionen um die Entstehung des Jugendfreizeitheims „Die Brücke“. Max Willutzkis „Der lange Jammer“ (1972/3) dokumentiert die Mieterselbstorganisation in dem Neubauviertel.
Sehr erfreulich ist, dass im Rahmen der Reihe Penelope Buitenhuis Nachwendefilm „Trouble“ nach längerem mal wieder im Kino zu sehen sein wird. „Trouble“ ist ein Spielfilmporträt der Musikszene im Berlin der frühen 1990er Jahre durchwoben mit der Geschichte der kanadischen Sängerin Jonnie und einem Piratensender, mit dem das Fernsehen gekapert werden soll. Wer den nicht guckt, ist selber schuld.
Wie meist sind die eigentlichen Entdeckungen unter den Kurzfilmen auszumachen. Neben einer Reihe von eigenständigen Kurzfilmprogrammen werden viele der Langfilme durch Vorfilme ergänzt. Eine der Wiederentdeckungen der letzten Jahre ist beispielsweise „Kreuzberg gehört uns“, der 1972 eine Mieterselbstorganisation begleitet.
Aber auch in den spröderen Filmen wie Oskar Holls „Altstadt – Lebensstadt. Stadterneuerung in Berlin-Kreuzberg“ (1975, Kamera: Edgar Reitz) und unter Wolfgang Kiepenheuers unermüdlicher Berlinfilmerei, denen die Reihe ein Programm widmet, gibt es von heute aus ungewohntes zu entdecken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“