Kinder- und Jugendhilfe in Berlin: Keine sorgende Zukunft mit Liecke
Die Kinder- und Jugendhilfe braucht mehr Personal und mehr Geld. Mit Berlins Jugendstaatsekretär Falko Liecke (CDU) wird das nichts werden.
D ienstagmorgen war kurz alles gut. Die AG Weiße Fahnen hatte zum ersten „Kinder- und Jugendhilfegipfel“ vor das Rote Rathaus gerufen. Es schien, als habe sich das neue Leben in den Herbstmorgen geschlichen, mit Gesprächen über eine gemeinsame Zukunft, einem eindeutigen politischen Ziel.
Sozialarbeitende, Erzieher:innen, Schulsozialarbeiter:innen, Fachkräfte waren gekommen, um in Arbeitsgruppen die Personalnot, den Zeitmangel, die überbordende Bürokratie und die Geldprobleme in der Jugendhilfe zu adressieren. Auch Jugendliche waren da, die momentan in Berlin in Wohngruppen und stationären Einrichtungen leben. Auf der Bühne forderten sie mehr Taschengeld, mehr Ausflugsgeld, mehr Personal. Es gab auch einen Plan, wie das umgesetzt werden kann: Weniger Geld für Waffen und weniger Geld für Politiker:innen.
Im liberalen Kapitalismus sind die am lautesten, die in Sprache, Wirtschaft und Investitionen erfolgreich sind. Oft kommen sie aus mittelständigen bis reichen Elternhäusern, wo genug verdient wird, um den Kindern während des Studiums in der Großstadt ihre Wohnung inklusive Balkonpflanzen und Bettkästen zu bezahlen.
Solche traditionellen Verhältnisse sind rar in der Jugendhilfe. Es sei denn, man wächst bei einer Pflegefamilie auf. Doch auch hier verändert der Wandel der Familiensysteme zeitliche und emotionale Kapazitäten, immer weniger Menschen nehmen Pflegekinder auf. Mehr junge Menschen leben in stationären Einrichtungen. Mit ihnen wurden 2019 über eine Million Kinder, Jugendliche und junge Volljährige von Angeboten der „Hilfen zur Erziehung“ betreut.
Familienpolitik wird für die Mittelschicht gemacht
Die Jugendhilfe ist mit Klassenfragen verknüpft, die wiederum durch kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse erzeugt werden, in denen Niedriglöhne rechtlich unterfüttert und Care-Arbeit entwertet wird. Unterdessen wird Familienpolitik für die Mittelschicht gemacht, wo Menschen die Zeit und Ressourcen haben, Anträge auszufüllen, ohne sich das Zahnfleisch abzutragen.
Diese Verhältnisse zeigen sich auch in den Statistiken. Im Jahr 2019 haben 43,9 Prozent Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen und 55,4 Prozent der Kinder in Pflegefamilien zuvor mit einem alleinerziehenden Elternteil gelebt. In Deutschland gelten 43 Prozent der Ein-Eltern-Familien als einkommensarm, davon sind 88 Prozent Mütter. Alleinerziehende Eltern müssen ihre Arbeitskraft in Lohnverhältnissen verkaufen, während sie wichtige Care-Arbeit leisten.
Ob Jugendstaatssekretär Falko Liecke (CDU), dem die Ergebnisse des Gipfels kurze Zeit später übergeben werden, das bekannt ist, wissen wir nicht. Weniger Geld für Politiker:innen, das immerhin gab er zu Protokoll, ist für ihn „keine ernsthafte Debatte“. An dieser Stelle platzt der Traum von der Mitsprache.
Als Staatssekretär erhält Liecke für seine Arbeit rund 11.720 Euro im Monat. Das durchschnittliche monatliche Nettoeinkommen von alleinerziehenden Müttern lag im Jahr 2017 bei 1.873 Euro. Junge Menschen, die mit 18, 19 oder 23 Jahren noch Angebote der Jugendhilfe wahrnahmen und eigenes Einkommen hatten, mussten bisher 75 Prozent an die Jugendhilfe abgeben.
Die Armut setzt sich weiter fort
Zwar wurde die sogenannte Kostenheranziehung dieses Jahr abgeschafft. Trotzdem starten viele junge Menschen ohne Geld in ihr Erwachsenenleben. Wozu Stauraum in Bettkästen, wenn man eh nichts drin zu verstauen hat. Papa anrufen, wenn der Vermieter eine Kaution will, wenn die Semestergebühr ansteht, die knappe Ausbildungsvergütung vor Monatsende das Konto gepfändet hat: Das alles ist nicht drin.
Schon während der Zeit in der Jugendhilfe ist das Leben der jungen Menschen von Anträgen für finanzielle Weitergewährung der Hilfen, Maßnahmen zur Erziehung und Zielformulierungen bestimmt. Investitionen in Jugendsozialarbeit sind dabei großartig, Freizeit mit Ausflügen, Bildungs- und Gruppenangeboten wird helfen, die multiplen Krisen dieser Zeit zu überstehen.
Aber: Wenn keine finanziellen Perspektiven für junge, durch ihre familiären Verhältnisse arme Menschen geschaffen werden, etwa durch einen Rechtsstatus, der ihnen schnell und unbürokratisch hilft, vom Sozialsystem unabhängig zu werden, setzt sich die Armut weiter fort. Damit gehen Stresskrankheiten, potenzielle Arbeitslosigkeit, erneute Überforderung Hand in Hand. Diese Symptome wiederum aufzufangen, kostet den Staat bereits heute Milliarden.
Das Problem ist: Falko Liecke sieht den Zusammenhang zwischen einer liberalen Politik und der prekären Situation von Kindern und Jugendlichen in der Jugendhilfe nicht. Finanzkapitalismus und administrative und strafende Eingriffe durch den Staat schließen die Betroffenen aus, sie sprechen ihnen ihre Menschlichkeit ab und weisen ihnen durch behördliche Eingriffe ihren Platz in der Gesellschaft zu.
„Wir“ und „Die“?
Die Markierung von Menschen als Andere ist Teil einer rassistischen Denktradition. Seine diesbezügliche Haltung zeigte Liecke erst dieses Jahr im Zuge der Silvesternacht in Berlin. Er zog immer wieder Grenzen zwischen Menschen mit den Worten „Wir“ und „Die“. Auf Facebook schrieb Liecke: „Die meisten Täter waren nie ein Teil von uns. (…) Sie haben und wollten nie den Weg in die Mehrheitsgesellschaft finden.“
Weit entfernt von Liecke finden sich sensible Armutsforscher:innen und Kinderrechtsaktivist:innen wie Christoph Butterwegge oder Mareice Kaiser, die sich mit Menschen in prekären Lebenslagen solidarisieren, anstatt sie, wie Liecke es getan hat, aufzufordern, ihren Kleidungsstil zu ändern oder mit „pseudoreligiösen archaischen Riten und Gebräuchen“ aufzuhören.
Ein Staatssekretär, der sich mit seinen Thesen in die Nachbarschaft von AfD-Trollen wie Björn Höcke oder SPD-Abstellgleislern wie Thilo Sarrazin gestellt hat, die Differenzen politisch aufladen und die Kinder- und Jugendhilfe hauptsächlich erwähnen, um mit ihr gegen „Intensivstraftäter“ oder „radikale Muslime“ Stimmung zu machen, wird die Berliner Kinder- und Jugendhilfe nicht in eine gemeinschaftliche und sorgende Zukunft führen. Ein Steuersystem, das Geld gerechter verteilt, eine ehrliche Einordnung der eigenen Privilegien, ein Zuwachs am Engagement aller, die Bereitschaft abzugeben, sehr wohl.
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