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Archiv-Artikel

Keine Angst vorm Scheitern

Nicht nur die Kritiker lieben es, sondern auch das Publikum: Das Hamburger Thalia, das jetzt zum zweiten Mal Theater des Jahres wurde, schafft einen seltenen Spagat. Dabei weiß Intendant Ulrich Khuon sehr genau, dass das kein Grund zum Ausruhen ist. Denn die gute Stimmung kann jederzeit kippen

Inzwischen protestiert nicht mehr, wie in den Anfangsjahren, das Publikum, sondern die Tochter Ulrike Meinhofs

VON PETRA SCHELLEN

„Mir liegt schon daran, dass ich verstanden werde.“ Ulrich Khuon, Intendant des Hamburger Thalia Theaters, macht keinen Hehl aus seinem Hang zur Harmonie. Aber er hat auch keine Angst vor dem harten Urteil der Zuschauer: vor unberechenbaren Reaktionen auf ein Stück wie Molnárs „Liliom“ oder Jelineks RAF-Stück „Ulrike Maria Stuart“ zum Beispiel.

Und vielleicht ist es das, was den Erfolg des Thalia Theaters ausmacht, das die Zeitschrift „Theater heute“ abermals zum Theater des Jahres kürte: die Mixtur aus Selbstbewusstsein und Kompromissbereitschaft. Zudem der Wille, möglichst alle Publikumssegmente in ein Haus mitzunehmen, das ursprünglich ein konservatives Publikum bediente. Denn noch zu Khuons Amtsantritt im Jahr 2000 war die Hamburger Theaterlandschaft recht sauber aufgeteilt: Das Schauspielhaus war für die Mutigen, Progressiven, das Thalia für die Traditionalisten. Der ebenfalls 2000 angetretene Schauspielhaus-Intendant Tom Stromberg hatte das auf die Spitze getrieben, im Thalia-Intendanten Khuon aber einen Gegenspieler mit langem Atem gefunden, den mancher zunächst unterschätzte. Denn Khuon ist keiner, der – wie Stromberg – mit vier Parallel-Premieren in Hamburg aufschlägt. Khuon ist einer, der beobachtet, rechnet und wägt. Einer, der einst Pastor werden wollte und schon während seiner ersten Intendanz am Stadttheater Konstanz viel und überzeugend redete: „Der Dialog mit dem Publikum ist am wichtigsten“, sagt er. „Wir bemühen uns wie die Verrückten um Vermittlung“. Und um eine Mixtur, die Konservative und Progressive gleichermaßen ertragen können.

Ein Rezept, das funktioniert. Denn natürlich bekommt das gesetztere Publikum sein Futter. Vom gesellschaftskritischen Autor Moritz Rinke zum Beispiel. Der beleuchtet sanft ironisch das Elend freigesetzter Manager – so dezent, dass auch der Finsterste getrost über sich lachen kann. Die Grenze zur echten Provokation überschreitet Rinke nie.

Das tun andere: Michael Thalheimer zum Beispiel. Mit der Inszenierung von Franz Molnárs „Liliom“, dessen Drastik einen Skandal gebar – und zuletzt Nicolas Stemann mit Elfriede Jelineks „Ulrike Maria Stuart“. Doch die Gewichte haben sich verschoben. Jetzt protestiert nicht mehr, wie im Dezember 2000, das Publikum. Dafür hat das Thalia-Ensemble die Zuschauerschaft mittlerweile zu stark bezirzt durch unzählige Einführungen und Gespräche. Jetzt sind es reale Protagonisten wie Ulrike Meinhofs Tochter Bettina Röhl, die sich durch Jelineks Text entblößt fühlte. Vorwürfe, die Khuon gelassen konterte. Die im übrigen ein Stück betrafen, das er auch ins Programm genommen hatte, um die Zuschauerzahlen zu steigern. Denn mit der Aufarbeitung der RAF-Geschichte lockt man alle – Sympathisanten, Gegner, Möchtegern-Erben.

Aber solche Griffe nach dem ultimativen, alle gesellschaftlichen Segmente umfassenden Publikum waren es nicht allein, die das Thalia in der Publikums-, Kritiker- und Politikergunst steigen ließen. Es war und ist auch das Loslassen-Können Ulrich Khuons – etwa, wenn es um exzellente Schauspieler geht, deren Aufbruch er bereits ahnt: Noch während eine Fritzi Haberlandt leuchtete, siedelte er schon unauffällig ihre Nachfolgerin im Ensemble an. Denn er hat den Turnus verstanden, den die Wirtschaft als „Schweinezyklus“ kennt und dem es auch im Theater zu begegnen gilt mit stetiger innerer Erneuerung als Garanten für ein stabiles Ensemble.

Außerdem hat Khuon schon früh Formate erfunden, die Akteuren und Zuschauern die Angst vor Neuem nehmen: „Limited Edition“, eine Reihe nur einmal gespielter Stücke, ist so eins. Schnell hingelegte Werkstatt-Inszenierungen im Rahmen der von Khuon erfundenen und aus seiner Hannoverschen Intendanz mitgebrachten Autorentheatertage sind ein weiteres.

Beides sind Formate, die ein am Experiment interessiertes Publikum anlocken, ohne dass Perfektion nötig wäre. Man darf scheitern, und das befreit. Dass Khuon die Autorentheatertage nicht nur zum Stückemarkt, sondern – durch die Einladung auswärtiger Inszenierungen – auch zum kleinen Theatertreffen machte, ist ein erwünschter Nebeneffekt. Das Wesentliche aber: Im geschützten Raum können sich hier Nachwuchsautoren und -regisseure erproben. Kooperationen wie das jährliche, von der Körber-Stiftung geförderte „Studio Junge Regie“ oder die jüngste Invasion der Hamburger Theaterakademie tun ein Übriges.

Doch das Thalia biedert sich nicht an, und es springen nicht nur hippe Experimentatoren über dessen Bühnen: Langjährige Kooperationen wie die zwischen Regisseur Andreas Kriegenburg und Autorin Dea Loher sind fester Bestandteil des Thalia-Programms. Loher ist – neben Rinke – übrigens eine Theaterautorin, die Khuon entdeckt und systematisch gefördert hat.

Beweglichkeit, auch konkret geographisch gemeint: eine weitere Facette Khuon’schen Theaterverständnisses. „Egal, wo Sie hinkommen, wir sind schon da!“ lautete sein Slogan schon in Konstanz, das er flächendeckend bespielte. In Hamburg hat er im Sommer 2006 immerhin schon die Baustelle Hafencity per Theaterzelt okkupiert. In diesem Jahr war es eine Alsterwiese im gediegenen Hamburger Norden. Und die Thalia-Bühne in der ganz und gar nicht gediegenen Gaußstraße ist längst unersetzliche Spielstätte für Experimente geworden. Und dann sind da ja noch die Gastspiele und Einladungen zum Berliner und anderen Theatertreffen ...

„Wir sind überall“: Das meint aber auch Orte handfesten politischen Streits – etwa das vom neuen Airbus-Werk gebeutelte Naturschutzgebiet Finkenwerder, dessen sich Regisseur Frank Abt in der Reihe „Stadtnotizen“ annahm. Ein paar Abende nur, in kleinem Format, aus Interviews mit Bewohnern zusammengesetzt: das Theater als Wächter, ganz in Khuons Sinne.

Sie sind charmant und aktuell, diese kleinen Formate – nicht spektakulär, aber experimentell genug, um Studenten, vielleicht auch – im Fall Finkenwerders – Betroffene anzulocken. Menschen, die sonst nicht ins Theater gingen. Oder Laien, die Theater spielen wollen: Schüler-, Studenten-, auch Behindertenprojekte gehören seit Jahren zum Repertoire des Thalia, und fast könnte man sagen: Khuon versucht alle mitzunehmen, als wolle er seinen Spielplan, der oft von Getriebenen und Außenseitern handelt, Lügen strafen.

Nie gewinnt man dabei den Eindruck, dass er dies nur aus Pflichtgefühl tut. Oder weil er auf die ohnehin schon exzellenten Zuschauerzahlen schielt. Hört und sieht man Khuon und den Seinen zu, spürt man vielmehr: Es ist ihnen ein echtes Bedürfnis, Gegenpole zu setzen. Nicht zuletzt durch einen Spielplan, der neben Klassikern immer auch junge Autoren bietet.

Alles auf Grün also fürs Thalia. Sogar eine Erhöhung der Zuschüsse hat Khuon der knauserigen Hamburger Kultursenatorin abgerungen. Eine kaum glaubliche Erfolgsgeschichte für den Intendanten, der 2009 ans Deutsche Theater Berlin wechseln wird.

Doch Khuon wäre nicht er selbst, würde er deswegen bräsig. „Ein bisschen beunruhigt mich das schon“, sagt er. „Denn so ein positiver Trend kann natürlich auch kippen, und ein Zuschauer, der zweimal enttäuscht wurde, kommt vielleicht nicht wieder.“ Will heißen: „Wir fangen mit jeder Spielzeit wieder bei Null an und investieren wirklich unsere ganze Kraft.“ Es klingt ein bisschen nach Understatement. Aber wenn man die erschöpften Mienen seiner Schauspieler am Ende jeder Spielzeit sieht, glaubt man ihm aufs Wort.