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„Keine Angst vor der Wiedervereinigung“

■ Frankreichs Staatspräsident hält Wunsch nach Wiedervereinigung für legitim / Mitterrand: „Was zählt ist, was die Deutschen wollen“ Frankreich werde seine Politik der Entwicklung anpassen / Entwicklung in der EG Voraussetzung für Reformprozeß in Osteuropa

Bonn (dpa) - Der französische Staatspräsident Francois Mitterrand hält den Wunsch der Deutschen nach einer Wiedervereinigung im Rahmen einer „friedlichen und demokratischen Entwicklung“ auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts für legitim. „Ich habe keine Angst vor der Wiedervereinigung“, sagte Mitterrand am Freitag in Bonn nach zweitägigen Gesprächen mit Bundeskanzler Helmut Kohl.

Sollte die Entwicklung dazu führen, „daß die Deutschen ein einziges Volk in einem einzigen Staat sein wollen, so muß das auf dem Willen des deutschen Volkes beruhen und niemand kann sich dagegen stellen“, sagte Mitterrand. Diese Entwicklung gehe auch die anderen Länder in Europa an, doch: „Was zählt, ist, was die Deutschen wollen und was sie können.“

Frankreich werde in einem solchen Fall seine Politik der Situation so anpassen, daß es „im besten Interesse Frankreichs und Europas“ ist, betonte Mitterrand, der demnächst der DDR einen Staatsbesuch abstatten will. Das Thema Wiedervereinigung wird nach Ansicht des Staatschefs das Ende dieses Jahrhunderts bestimmen. Es dürfe nicht auf der Grundlage von „Befürchtungen“ erörtert werden.

Als noch offene Frage bezeichnete Mitterrand die künftige Entwicklung der DDR, welche Menschen dort in die Führung gelangen werden und ob auch dort von einer Wiedervereinigung die Rede sein wird. Kohl und Mitterrand waren sich darin einig, daß eine dynamische Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft eine wichtige Voraussetzung für den Reformprozeß in Ost-Europa ist. Kohl sagte, daß es für die Bundesrepublik kein „Wanken zwischen den verschiedenen Welten“ gebe: „Unser Platz ist in Europa, unser Ziel ist die Einigung Europas.“ Das deutsche Problem sei nicht mit einer „anti-europäischen Stimmung“ zu lösen. Der Kanzler wandte sich auch gegen eine „ständige Vormundschaft“ gegenüber den Bürgern der DDR, zeigte sich aber davon überzeugt, daß der Wille zur Selbstbestimmung in der DDR vorherrschend ist.

Die nächsten Schritte auf dem Weg zur europäischen Union berührten Kohl und Mitterrand bei ihrer Pressekonferenz nur am Rande. Mitterrand bekräftigte, daß er als turnusmäßiger Ratspräsident der Gemeinschaft bei dem nächsten EG-Gipfel im Dezember in Straßburg eine Entscheidung über den Beginn der EG-Regierungskonferenz noch im Laufe des zweiten Halbjahres 1990 herbeiführen will. Diese Konferenz soll sich mit dem Ausbau der Wirtschafts- und Währungsunion befassen. Die Bundesregierung hat sich noch auf keine Termine eingelassen. In Straßburg soll auch über eine Sozialcharta der EG befunden werden, die soziale Schutzrechte festlegen soll.

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