■ J. Fischer sinniert über Kanzlerkandidat für Rot-Grün: Kein Prodi für Deutschland
Wir alle lieben Italien, besonders wir Linken. Unbeirrt aller widrigen Winde folgen wir dem Stern Antonio Gramscis, kämpfen nach dem Vorbild des Meisters um gesellschaftliche Hegemonie und halten tapfer am Primat der Politik fest. Auf die Idee, mit dem modernen „Principe“ Gramscis sei eine leibhaftige Person gemeint, ist allerdings noch niemand von uns gekommen. Hier handelt es sich um einen Einfall des Grünen Joschka Fischer, den die Sehnsucht nach den Olivenbäumen offensichtlich in den Wahnsinn getrieben hat.
Joschka Fischer empfiehlt uns, dem Vorbild des italienischen Wahlbündnisses „Ulive“ nachzueifern. Jene Koalition rund um Italiens Linksdemokraten hatte den Bologneser Wirtschaftsprofessor Romano Prodi, die allseits beliebte „Mortadella mit dem menschlichen Anlitz“, zum Kandidaten für das Amt des Premiers gekürt. Zusammen mit dem Expremier Dini sorgte der unabhängige Fachmann tatsächlich für einen Einbruch des „Ulive“ ins bürgerliche Lager. Allerdings nur mit dem Ergebnis, daß das Schlachtfest an den Resten des italienischen Sozialstaats jetzt mit „Bella ciao!“-Gesängen untermalt wird.
Wozu wähle ich seit 1980 die Grünen, wenn mir jetzt versichert wird, das politische Personal der „Enkel“, zu denen sich Fischer unbeschadet seiner Parteizugehörigkeit selbst zu zählen scheint, sei nicht in der Lage, bei Wahlen eine rot-grüne Mehrheit zu erstreiten? Eine „unabhängige Persönlichkeit von hoher Wirtschaftskompetenz, die nicht im etablierten Parteibetrieb drin ist und die weit in die bürgerliche Mitte ausstrahlt“, muß nach Joschka Fischer her, um die Vertrauenslücke von Rot-Grün zu schließen. Ulrich von Weizsäcker scheidet aus. Er ist zwar schon zu Lebzeiten heilig gesprochen, genießt aber nicht das Vertrauen der maßgebenden Wirtschaftskreise. Die Suche nach dem Kandidaten verspricht kurzweilig zu werden. Sie enthebt außerdem „unsere“ Politiker der lästigen Aufgabe, für ein konsistentes Reformprogramm zu kämpfen.
Mag die Kandidatur Romani Prodis auch einer, wenngleich verzweifelten Logik gehorcht haben, für Deutschland ist der Ruf nach dem parteiunabhängigen Fachmann das reine, antidemokratische Gift. Es stammt aus der Waffenkammer der Ultrakonservativen und hat schon einmal – am Ausgang der Weimarer Politik – seine unheilvolle Wirkung getan. Joschka Fischer, der sich mit so viel Talent dem Studium der Historie hingibt, sollte möglichst bald darüber nachdenken. Christian Semler
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