: Kein Knicks vor der Wirklichkeit
■ Vielgelobt, wenig gelesen: Reinhard Jirgl liest im Literaturhaus aus „Hundsnächte“
Über seine Bedeutung sind sich alle einig: Die Romane Reinhard Jirgls werden von der Kritik durch die Bank als literarische Ereignisse gefeiert. Wie darüber hinaus aber dieser ehedem Ostberliner Schriftsteller zu fassen sei, der heute abend im Hamburger Literaturhaus liest, darüber herrscht zur Zeit die schönste Sprachverwirrung. Den einen gilt er als Apokalyptiker, den anderen als Verfinsterungskünstler, wieder andere sehen in ihm einen akribischen Spracharbeiter, dann klebt ihm noch das Etikett eines deutsch-deutschen Autors an. Selbst das Lob, das Jirgl von Kritikerseite einfährt, hat etwas geschäftsschädigendes. Weil der 44jährige gern als Schwerkünstler vorgestellt wird, bei dem vor der Lektüre erst ein Knicks erforderlich scheint.
So ist Jirgl ein Autor, der viel rezensiert, aber viel zuwenig gelesen wird. Was schade ist. Zwar schreibt er schwierige Bücher. Aber selbstverständlich ist es nicht verboten, das Aufbauprinzip des Möbiusbandes, das etwa seinen neuen Roman Hundsnächte (Hanser Verlag) organisiert, und all die schweren Zeichen von Tod und Verwesung erst mal beiseite zu lassen und unbefangen zu lesen zu beginnen. Und man wird dann Beschreibungen finden, die einen, platt gesagt, schlicht umhauen.
Wie Jirgl etwa das heutige Berlin beschreibt oder die Ruinendörfer an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, hat eine Expressivität, Wucht und Genauigkeit, die sonst in der deutschen Literatur zur Zeit sonst nicht zu finden ist. Der Roman ist so waghalsig, hintergründig und perfekt ausgetüftelt, daß sich Jirgl vor einem Thomas Pynchon nicht zu verstecken braucht.
Was einem nicht auf den ersten Blick einleuchten muß, wenn man Jirgl auf einer Lesung sieht. Der gelernte Elektroingenieur übte jahrelang den Brotberuf eines Bühnentechnikers bei der Berliner Volksbühne aus, und noch immer haftet ihm so gar keine flirrende intellektuelle Aura an. Aber der Schein trügt!
Noch etwas werden Jirgl-Leser auf der Lesung vermissen: das besondere Schriftbild dieses Autors.
„Er wollte immer mehr sagen, als er mit Worten sagen konnte“, heißt es an einer Stelle in den Hundsnächten. Und so hat sich Jirgl inzwischen eine eigenwillige Schriftsprache ausgedacht. Aber die vorangestellten Ausrufezeichen, die vier verschiedenen Formen des Wortes „und“(und, u, u:, &), Schreigebungen wie „Frau=daheim & das Kind“kann Jirgl schwerlich in einen gelesenen Text hinüberretten. Dafür wird man einen Eindruck vom Rhythmus des Textes bekommen, der zu den ganz großen Gegenwartsromanen zu zählen ist. Von wegen Apokalypse! Was Jirgl schreibt, gibt es alles wirklich.
Dirk Knipphals
Lesung: heute, 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik
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