piwik no script img

„Kein Fall von Feigheit vorgekommen!“

■ Ein Gespräch mit General Jewgenij Alexandrowitsch Netschajew, dem stellvertretenden Chef der politischen Hauptverwaltung der Truppen des Innenministeriums

taz: Wie setzt sich Ihr Kontingent zusammen?

Netschajew: Abgesehen von den Offizieren sind das ganz gewöhnliche Jungs, die in Übereinstimmung mit dem Gesetz über den allgemeinen Wehrdienst einberufen werden und die diesen statt in der Armee eben bei uns ableisten.

Und wie sieht nun die Vorbereitung für diese einfachen Soldaten aus?

Im Unterschied zur Armee nimmt bei uns schon in den Grundkursen die Beschäftigung mit dem sowjetischen Recht und mit den Gesetzen einen wesentlich größeren Raum ein, ebenso die Kontaktfähigkeit gegenüber den Bürgern und andere derart für uns spezifische Dinge.

Gibt es auch Einheiten, die nur aus Professionellen bestehen?

Bei uns nicht. Solche Elitetruppen, in der Sowjetunion nennt man sie „Speznas“, die technisch und körperlich bis aufs äußerste gedrillt sind, gibt es bei uns nicht. Wir haben es mit ganz normalen Neueinberufenen zu tun. Nur achten wir darauf, daß sie körperlich etwas kräftiger sind.

Wie werden sie denn auf Einsätze wie in Aserbaidschan vorbereitet?

Uns stellt sich auch diese Frage: Wie soll ein Jüngelchen von 18 Jahren in solch einem Konflikt Entscheidungen fällen? Manchmal steht er plötzlich als einziger Sicherheitsgarant zwischen den streitenden Parteien, wie den Aserbaidschanern einerseits und den Armeniern andererseits. Natürlich müssen wir mit diesen Soldaten arbeiten. Aber außer in Baku war ich in letzter Zeit überall zugegen, wo unsere Jungs solche Konflikte lösen mußten. Da hat es keinen einzigen Fall von Feigheit oder Unentschlossenheit gegeben, weil unsere Soldaten ihre Aufgabe genau kannten: Wenn sie nicht verhindern, daß unschuldige Menschen umkommen, wer dann?

Wie steht es mit der sozialen Absicherung Ihrer Soldaten in solchen Fällen?

Erstens ist unsere Gesetzgebung in diesem Punkt unvollkommen, und zweitens waren wir auf diese Art von Konflikten relativ schlecht vorbereitet. Die jungen Leute standen bis vor kurzem nicht nur in dieser Hinsicht relativ ungeschützt da, sondern auch was den Waffengebrauch betrifft. Und es hat Fälle gegeben, wo unsere Soldaten nicht zu den Waffen griffen und wo ihnen auch die älteren Offiziere keinen dementsprechenden Befehl geben wollten, obwohl dies durchaus angezeigt gewesen wäre. Wir wollten das Blutvergießen an Bürgern unseres Landes um jeden Preis vermeiden, denn auch die Irregeleiteten bleiben doch schließlich Bürger.

Stimmt es, daß Innenminister Bakatin so etwas wie eine interne Gewerkschaft der Truppen des Innenministeriums geplant hat?

Ich habe davon nichts gehört, und so etwas brauchen wir auch nicht. Bei uns hat sich gerade seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahres eine ausgezeichnete Institution etabliert, die der sozialen Absicherung dient: Das sind die „Offiziersversammlungen“, die sich mit all diesen Fragen auseinanderzusetzen haben, wie zum Beispiel die Vergabe von Wohnungen. Und ich muß Ihnen sagen, daß Tausende der Familien von Offizieren und Fähnrichen zur Untermiete oder in Wohnheimen leben.

Kann diese Versammlung bindende Beschlüsse fassen?

Sie wirkt beratend.

Wie oft wird sie einberufen?

Je nach Bedarf.

Protokollführender Offizier: Das ist übrigens ein Element der Perestroika.

Das ist so ein neues, modernes Wort und auf allen Gebieten wird jetzt danach gefragt. Bei uns geht die Perestroika auch vonstatten, und zwar gerade im Hinblick auf die Spezialdienste der Armee. So existiert bei uns ein Sowjet der Fähnriche, und ein wirklich mächtiges Organ sind die Frauenräte, die in jeder Abteilung alltäglich relevante soziale Fragen entscheiden.

Hätte man Ihren Soldaten nicht eine Menge Schwierigkeiten ersparen können, wenn Ihre Aufklärungsabteilung besser arbeiten würde? Zum Beispiel in Sumgait?

Ja wirklich, wie es scheint, haben wir uns dort um zwei Tage verspätet, und in der Presse ist es in letzter Zeit Mode geworden, zu behaupten, daß wir immer ein bißchen zu spät kommen, dann, wenn schon alles passiert ist. Hier haben manche Massenmedien einen nicht ganz qualifizierten Ansatz.

Man muß einmal festhalten, daß der Chef der Truppen des Innenministeriums, Generalleutnant Schatalin, nicht so einfach beschließen kann, daß wir hier oder dorthin fahren. Einen solchen Beschluß kann nur das Präsidium des Obersten Sowjet der UdSSR in Abstimmung mit der jeweiligen Republik fassen. Auf unsere Prognosen und auf die interne Einschätzung unserer Sicherheitsorgane hat man sich dabei nicht gestützt und tut es auch jetzt noch nicht. Es stimmt, die entsprechenden kompetenten Organe dafür existieren.

Heißt das etwa, daß zwischen den verschiedenen Sicherheitsorganen der UdSSR Widersprüche bestünden?

Verstehen Sie, nur der Oberste Sowjet kann solche Entscheidungen fällen. Dorthin fließen alle Informationen, und dort werden sie entsprechend eingeschätzt. Das stimmt schon, das ist sehr richtig.

Letzte Woche gab es in den Fernsehnachrichten eine eigentümliche Kurzmeldung: In Moskau gäbe es Gerüchte über bevorstehende Pogrome und die betreffenden Sicherheitsorgane täten alles, um dem zuvorzukommen.

Nein, meiner Ansicht nach ging diese Meldung vom Komitee für Staatssicherheit (KGB, Anmerkung d.Red.) aus. Entsprechend auch vom Innenministerium, aber primär vom Komitee für Staatssicherheit. Das sind Gerüchte, das wird alles speziell gemacht, um eine gewisse Nervosität zu erzeugen.

Wenn solch eine Drohung besteht, sollte sie auch öffentlich diskutiert werden. Aber die Form dieser Fernsehmeldung ohne jeden Kontext - war dazu angetan, diese Gerüchte noch weiter anzuheizen.

Wahrscheinlich haben Sie recht. Wir, die Streitkräfte des Innenministeriums, sind gerade dabei, gute Kontakte zu den Massenmedien aufzubauen. In Baku waren jetzt 500 Journalisten bei unseren verschiedenen Unterabteilungen zu Gast.

Diese Pogrommeldung wich also ein bißchen von Ihrer Praxis ab?

Sagen wir lieber, daß sie ein bißchen „nicht unsere“ war.

In Baku sollen am Vorabend des letzten Pogroms, am 13.Januar, über 200 Berufskriminelle, Mörder und Schläger aus den Gefängnissen entlassen worden sein, die ja bekanntlich Ihnen unterstehen.

Das ist Verleumdung. In Aserbaidschan ist die Meinung verbreitet, wir seien gekommen, als die eigentliche Gefahr vorbei war. Aber hier habe ich gerade ganz neue Zahlen über die Tage nach dem 13.Januar bekommen. Sie bezeugen, daß die Pogrome weitergingen. (Macht konkrete Angaben.) Diese ganze traurige Statistik bezeugt meiner Ansicht nach, daß der Einsatz der Streitkräfte hier unumgänglich war. Im großen und ganzen drohten den dort zurückgebliebenen Armeniern und auch anderen Teilen der Bevölkerung noch immer Gefahren. Die Streitkräfte wurden hier zu Recht eingesetzt, und auch solche extremen Maßnahmen, wie die Verhängung der Ausgangssperre, wurden zu Recht ergriffen. Das hat uns ermöglicht, die Situation seither zu stabilisieren.

Und diese Abteilungen, die hier in Moskau den spektakulären Überfall auf die aserbaidschanische Vertretung inszenierten?

Nein!

Waren das nicht Ihre Leute?

Wir haben da nicht mitgemacht. Wir wissen davon nur soviel, wie in der Presse gestanden hat. Und daß keiner unserer Leute sich auch nur in der Nähe dieser Vertretung aufgehalten hat, das ist 100prozentig verbürgt.

Sie wissen wahrscheinlich, daß dies nur das letzte Glied in einer Ereigniskette war. Militärs, die in allen Fällen eine bisher in Moskau nie gesehene Uniform mit grauen Westen und Schutzhelmen trugen, fielen schon zweimal außergewöhnlich brutal über Demonstrationen der „Demokratischen Union“ her: im August 1988 anläßlich des 20. Jahrestages des Einmarsches in die Tschechoslowakei und Ende letzten Jahres bei der Gedenkdemonstration für die Folteropfer des Lubjanka -Gefängnisses.

Sie müssen wissen, daß es sogenannte „Speznas“ nicht nur bei uns gibt, es existiert da eine neue Formation bei der Polizei, die sogenannte „OMON“. Keinerlei Soldaten des Innenministeriums haben in Moskau je bei Aktionen aus Anlaß von Meetings oder ähnlichen Ereignissen teilgenommen. Da führt man Sie in die Irre, und auch unsere eigenen Journalisten geraten in diesem Punkt durcheinander, und daran sind wohl wiederum nur wir selber schuld. Wir sollten uns mit allen Interessierten so offen unterhalten, wie heute mit Ihnen hier. Wir haben kein einziges Mal an der Zerschlagung friedlicher Demonstrationen teilgenommen.

Und in Tbilissi?

In Tbilissi waren wir im Einsatz, aber das Ganze liegt auf einer anderen Ebene.

Hat es Sie nicht getroffen, daß vor den Ereignissen die Tbilissier Milizionäre, die die Demonstranten schützen wollten, entwaffnet wurden? Sie unterstehen doch auch dem Innenministerium.

Dem Innenministerium der Republik.

Hat der Armeegeneral Kotschetow diese Entwaffnung veranlaßt?

Ich glaube kaum. Obwohl natürlich die gesamte Operation der Armee unterstand. Auch wir waren ihr unterstellt. Wir haben dort nur die Befehle des Verteidigungsministeriums ausgeführt.

Mitglieder der Komission des Obersten Sowjet, die diesen Vorfall untersucht, meinten, Ihre Soldaten hätten sich damals in einem psychischen Ausnahmezustand befunden, wie an einer gefährlichen Front. Offenbar hatte man sie vorher über die Natur dieses Einsatzes falsch informiert.

Bisher gibt es keine Beweise dafür, daß unsere Jungs sich dort so ungebildet benahmen, friedliche Bürger erschossen, mit Gas vergifteten oder niedertrampelten. Ich möchte allerdings nicht mit jenen Deputierten wetteifern, die schon vor Abschluß der offiziellen Untersuchung aus der Schule plaudern. Aber ich konnte keine der rechtswidrigen Handlungen feststellen, die in der Presse breitgetreten wurden, um unseren Soldaten zu verleumden.

Wann halten Sie den Einsatz Ihrer Soldaten für gerechtfertigt?

Populär ausgedrückt verleiht ein solches Recht eine Lage, wie wir sie in Ferghana vorfanden, wo bereits über 1.000 Häuser verbrannt waren, wo wir uns unzweifelhaft dem Tatbestand des Genozids und des Vandalismus gegenübersahen. Wo Menschen des elementaren konstitutionellen Rechts beraubt wurden, im eigenen Haus alt zu werden, und wo Räuberbanden herumschossen. Eine Reihe von solchen Voraussetzungen war auch in Baku und in einigen anderen aserbaidschanischen Gebieten gegeben.

Das waren also typischere Fälle als Tbilissi?

Ich bin in Tbilissi nicht gewesen, dagegen kurzfristig in Baku und vom ersten bis zum letzten Tag in Ferghana. Und ich würde gern selbst das Urteil jener Organe abwarten, die in dieser Frage wirklich kompetent sind - und an Ihrer Stelle würde ich das auch tun.

Haben wir einen zentralen Punkt ausgelassen?

Am meisten regt mich auf, daß die im Lande von der Partei angekündigte Perestroika sich in einem schrecklichen Leerlauf befindet, auch wirtschaftlich, und daß die sogenannten „feindlichen Kräfte“ hier doch sehr stark sind. Als Vertreter der sogenannten „rechtsschützenden Organe“ beunruhigen mich natürlich auch die Nationalitätenkonflikte. Schon ist Blut vergossen worden, und Hunderte, die unschuldig in solche Konfrontationen verwickelt wurden, sind gestorben. Als Angehörigem der Streitkräfte des Innenministeriums beschäftigt mich natürlich die Frage, wie diese Truppen vervollkommnet werden können und wie vor allem die soziale Lage unserer Soldaten, Offiziere und ihrer Familien verbessert werden kann. Diese Fragen beschäftigen aber auch unsere Regierung. Und in der gegenwärtigen Sitzungsperiode des Obersten Sowjet steht eine Reihe von Gesetzen zur Verabschiedung an, die schon längst fällig gewesen wären: darunter ein Gesetzesprojekt über die Streitkräfte des Innenministeriums, über die sowjetische Polizei, das heißt also über äußerst grundsätzliche Fragen.

(Dieses Gesetz wurde mittlerweile verabschiedet, aber noch nicht veröffentlicht, Anm. d.Red.)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen