: Kein Anlaß zur Scham!
Staatsvertrag ist nicht das Ende von DDR-Politik ■ G A S T K O M M E N T A R
Es ist in dieser Zeitung üblich, auf die SPD einzuschlagen. Die Kritik an der SPD ist auch billig zu haben: Man muß nur die Maßstäbe hochschrauben und vor allem weit genug von der Realität entfernen, um hämisch oder empört feststellen zu können, wie beschämend mies das Erreichte ist. Die Bewertung des Staatsvertrags ist ein solcher Fall. Der Vorwurf, die SPD hätte nicht für parlamentarische Beteiligung gesorgt, unterstellt, daß Verträge zwischen Staaten von Parlamenten ausgehandelt würden. Das tun aber überall in der Welt Regierungen und zwar selten unter dem Scheinwerferlicht von Fernsehkameras! Der Vorwurf, die SPD hätte sich nicht hinreichend gegen den Bonner Termindruck gewehrt, übersieht, daß der Termin des 2. Juli ein Produkt des Volkskammerwahlkampfes (übrigens zuerst von Ibrahim Böhme in die öffentliche Debatte gebracht!) und unter dem Eindruck und Druck der Fluchtwelle aus der DDR entstanden ist! Der Vorwurf, der Staatsvertrag sei ein Dokument der Unterwerfung, will nicht wahrhaben, daß die übergroße Mehrheit der DDR-Bevölkerung die schnelle deutsche Einheit will und die D-Mark besonders schnell! Die Währungsunion galt und gilt den meisten als der sicherste Weg, der immer offenbarer werdenden wirtschaftlichen Misere in der DDR zu entfliehen. Die BRD nun war bemüht, die Grundstrukturen dafür zu schaffen, daß ihre Währung auf fruchtbaren Boden fällt. Die SPD war bemüht, dafür zu sorgen, daß bei der Wirtschafts- und Währungsunion die sozialen Aspekte berücksichtigt werden. Das Paket wurde also so umfänglich, weil für die BRD Währungsunion nicht ohne Wirtschaftsunion und für die SPD Währungs- und Wirtschaftsunion nicht ohne Sozialunion akzeptabel war!
Die SPD hat nicht alles erreicht, was sie wollte. Sie kann Kräfteverhältnisse, die durch demokratische Wahlen entstanden sind, nicht verändern: Die SPD ist eben - leider
-der kleinere Koalitionspartner. Aber sie kann ihr Gewicht durch Einsatz, Argumentationskraft, öffentlichen Druck vergrößern. Genau das hat sie - mit Erfolg - versucht! Die SPD hat als einzige Partei den gesamten Vertrag bearbeitet und schriftliche Gegenvorstellungen in einem Positionspapier der SPD-Mitglieder vorgelegt. In vielen Punkten hat sie ihre Positionen auch durchsetzen können. Das nimmt allerdings nur wahr, wer nicht von unrealistischen Maßstäben ausgeht, sondern den ersten Entwurf des Staatsvertrags mit dem jetzt erreichten Ergebnis vergleicht! Zu den Verbesserungen, die unter dem Einfluß der deutschen Einigung (Präambel), Maßnahmen zur Strukturanpassung von DDR-Betrieben (Art. 145), Sicherungsmaßnahmen für die DDR-Landwirtschaft (Art. 15), Aufnahme des Umweltschutzes in den Vertrag (Art. 16) und vor allem soziale Sicherungen (Art. 17 bis 25): Kündigungsschutz, Beibehaltung einer allgemeinen Sozialversicherungspflicht, Betonung der Arbeitsmarktpolitik und Verteidigung des Prinzips der „Mindestrenten“. Eine Rentenhöhe deutlich über dem Existenzminimum ist erreicht und damit eine Grundbedingung für die SPD-Zustimmung zum Vertrag erfüllt.
Der Staatsvertrag ist nicht das Ende von DDR-Politik, ein zweiter und eventuell ein dritter Staatsvertrag zur Gestaltung der deutschen Einigung müssen folgen. Der Staatsvertrag ist mit Sicherheit auch nicht das Ende sozialdemokratischen Engagements für die Leute in diesem Lande!
Wolfgang Thierse
Der Autor ist stellvertretender Vorsitzender der Volkskammerfraktion der SPD.
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