Kaschmir verliert Autonomie: Indien zündelt am Pulverfass
Indiens hindunationalistische Regierung zerschlägt den Bundesstaat Jammu und Kaschmir. Sie stellt die Opposition unter Hausarrest.
Am Sonntag waren wegen des zu erwartenden Widerstands alle relevanten Oppositionsführer*innen in Kaschmir unter Hausarrest gestellt, ein totales Versammlungsverbot verhängt und alle Kommunikationskanäle blockiert worden. „Möge Allah uns retten“, twitterte Omar Abdullah von der Kongress-Partei. Der ehemalige Ministerpräsident des Staates sprach von einer „schockierenden Entscheidung“ und einem „totalen Betrug an dem Vertrauen, das die Menschen in Kaschmir in Indien gesetzte hatten“.
Der Verfassungsartikel 370 von 1949 ist eine „vorläufige Bestimmung“ der indischen Verfassung, die dem Staat Jammu und Kaschmir außer in Fragen der Außen-und Verteidigungspolitik sowie Kommunikation Unabhängigkeit gewährt. Artikel 35A wurde 1954 in die Verfassung aufgenommen und erlaubt es dem lokalen Parlament festzulegen, wer Bürger des Staates ist und wer dort Land besitzen und Regierungsämter erhalten kann.
„Heute ist der dunkelste Tag in der indischen Demokratie“, sagte Mehbooba Mufti von der Demokratischen Volkspartei (PDP), die noch bis 2018 in einer Koalitionsregierung mit Modis BJP Ministerpräsidentin in Kaschmir war. Sie und Sajjad Gani Lone, Präsident der Jammu und Kaschmir Volkskonferenz, der 2014 Modi unterstützt hatte, stehen ebenfalls unter Hausarrest. Mufti warf der Regierung „finstere“ Machenschaften vor und sagte, Neu-Delhi wolle die „Demografie Jammus und Kaschmirs“ verändern.
Folgen einer blutigen Kolonialgeschichte
In der Tat erfüllt der als Hardliner bekannte neue Innenminister Amit Shah mit der Aufhebung der Autonomie des Staates ein alte Forderung der politischen Rechten in Indien. Der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), die ideologische Vorfeldorganisation der regierenden Bharatiya Janata Partei (BJP), hat die Islamisierung Kaschmirs (die bereits im 13. Jahrhundert begann) nie akzeptiert und betrachtet die Region als Reich der Göttin Saraswati.
In einem 1947 veröffentlichen RSS-Papier mit dem Titel „Zur Bedeutung Kaschmirs“ heißt es, Kaschmir könne „Millionen Menschen aus Indien aufnehmen. So kann eine Mehrheit in eine Minderheit verwandelt werden. […] Aber vor allem hat Kaschmir für uns historische Bedeutung. Vor nicht einmal tausend Jahren war es ein Sitz der Hindu-Kultur und des -Wissens.“
Doch ob Ideologie die Probleme Kaschmirs lösen kann, ist fraglich. Der Konflikt um Kaschmir, um das die Atommächte Indien und Pakistan bereits drei Mal Krieg geführt haben, ist eine Folge des Zusammenbruches des britischen Kolonialreichs und der damit einhergehenden Teilung Indiens. Pakistans Premierminister Imran Khan twitterte am Sonntag, Indiens „aggressive Aktionen“ hätten „das Potenzial, die Region in eine Krise zu stürzen“. Offenbar hatte Khan kürzlich bei seinem Besuch in Washington US-Präsident Donald Trump davon überzeugt, seine Vermittlerdienste in Kaschmir anzubieten, was wütende Reaktionen in Neu-Delhi zur Folge hatte. Indien lehnte bisher jede Vermittlung strikt ab.
Mit der Unabhängigkeit 1947 hatten die Fürstenstaaten in Britisch-Indien die Wahl, dem muslimischen Pakistan oder dem als säkular konzipierten Indien beizutreten. Der hinduistische Maharadscha von Kaschmir wählte Indien, obwohl die Mehrheit seiner Bevölkerung muslimisch war. Pakistan besetzte daraufhin Teile Kaschmirs, verlor aber den Krieg mit Indien. Seitdem ist der Staat geteilt. Weil Pakistan Kaschmir für „die offene Rechnung der Teilung“ hält, unterstützt es seitdem Separatisten, die das Kaschmir-Tal regelmäßig mit Gewalt überziehen.
Vergessene Geschichten der religiösen Minderheiten
Die dort kämpfenden Terrorgruppen Lashkar-e-Taiba (LeT) und Jaish-e-Mohammad (JeM) waren auch für die Attentate auf das Parlament in Neu-Delhi 2001 und die Stadt Mumbai 2008 verantwortlich. Anfang dieses Jahres starben bei einem Attentat der JeM auf einen Konvoi der indische Armee in Kaschmir 40 Soldaten. Indien reagierte zum ersten Mal mit einem Raketenangriff auf vermeintliche Terrorlager in Pakistan, was eine radikale Abkehr von der bisherigen Politik darstellte. Die hatte wegen der Nuklearwaffen in beiden Ländern und der damit verbundenen Gefahr eines Atomkrieges stets auf Diplomatie gesetzt.
Völlig an den Rand gedrängt wurden in der blutigen Geschichte Kaschmirs nicht nur muslimische Gruppen, die sich für die Unabhängigkeit („azadi“) von Indien und Pakistan einsetzen, sondern auch die nichtmuslimischen Regionen, das buddhistische Ladakh und das hinduistisch geprägte Jammu. „Die Menschen in Ladakh wollten seit Langem, dass die Region von der Dominanz Kaschmirs befreit wird“, sagte Jamyang Tsering Namgyal, ein Abgeordneter der BJP aus Ladakh.
Vergangene Woche war, wohl in Vorbereitung auf die jetzige Entscheidung, die traditionelle Amarnath Yatra, eine hinduistische Pilgerreise zu einem Schrein des Gottes Shiva zwischen Jammu und Srinagar abgesagt worden. Als Grund wurde angegeben, es bestehe die Gefahr eines Terrorangriffs.
„Abgrenzung bedeutet, dass das Zentrum der Macht von Kaschmir nach Jammu verlagert wird. Vielen Dank Amit Shah“, jubelte der Verteidigungs-Analyst Abhijit Iyer-Mitra aus Delhi. Teile und herrsche also. Doch was dies für die Zukunft der Muslime in Kaschmir bedeutet, ist derzeit unklar. „Wenn die Kaschmirer unsere Bürger und ihre Parteien unsere Partner sind, müssen nicht die moderaten Kräfte eingebunden werden, wenn wir Terroristen und Separatisten bekämpfen wollen?“, fragt der Abgeordnete der oppositionellen Kongress-Partei, Shashi Tharoor. „Wenn wir sie entfremden, wer bleibt dann noch übrig?“
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