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Archiv-Artikel

Kalkulierte Offensive

Die Lizenz zum Wählen aus Karlsruhe führt umgehend zu heftiger Generaldebatte in der Bürgerschaft. SPD-Fraktionschef Neumann attackiert das Senatskonzept der „Wachsenden Stadt“ zugunsten des Entwurfs einer „Menschlichen Metropole“

von Marco Carini und Sven-Michael Veit

Michael Neumann ging in die Vollen. Wenige Stunden nach der Karlsruher Lizenz zum Wählen nutzte der SPD-Fraktionschef die Bühne der Bürgerschaft für eine programmatische Wahlkampfrede. Eine Generalabrechnung mit dem Senatskonzept der „Wachsenden Stadt“ präsentierte der Oppositionsführer mit kalkulierter Offensive – und erwischte eine vollkommen überraschte CDU kalt.

„Der Standortfaktor Nummer eins ist Familienfreundlichkeit“, erklärte Neumann und zählte die lange Liste der Senatsverstöße gegen dieses Gebot auf: Kitas, Schulchaos, Kürzungen in der Bildung, Sportsteuer, Wegzüge von Familien in den Speckgürtel, Kürzungen im sozialen Wohnungsbau und eine Kinderzimmerzulage ausgerechnet für diejenigen, die sich Eigenheime kaufen können – der Senat und die CDU hätten nicht begriffen, dass „ökonomischer Erfolg und sozialer Fortschritt zusammengehören“.

Die Zukunft, so Neumann unter wachsendem Jubel seiner eigenen Fraktion und auch der Grünen, „hängt nicht ab von der Zahl der Kraftwagen, sondern von der Zahl der Kinderwagen“. Der Maßstab für die Politik in Hamburg aber, müsse „die menschliche Metropole, muss der Mensch sein“. Ein Überraschungsangriff Neumanns, den Bürgermeister Ole von Beust (CDU) wegen Abwesenheit verpasste, Rote und Grüne hingegen mit langem Beifall belohnten.

In Ermangelung des Regierungschefs und mangels durchgängiger Präsenz von Stadtentwicklungssenator Michael Freytag blieb es CDU-Fraktionsvize Marcus Weinberg vorbehalten, für die Regierung die aufgezwungene Generaldebatte aus dem Stegreif zu bestreiten. Neumanns Ausführungen bewertete er als „Sammelsurium von Diffamierungen und Unwahrheiten“. Es sei zudem die SPD, die die Verantwortung trage für die bundesweit zunehmende Verarmung von Familien, die auch vor Hamburg nicht Halt mache. Weinberg wörtlich: „Das können sie nicht auch noch dem Senat anlasten.“

Statt des behaupteten familienpolitischen Notstands gebe es in Hamburg mehr Geld für und mehr Plätze in Kindergärten als unter Rot-Grün. Vor allem der Rechtsanspruch auf eine fünfte Betreuungsstunde plus Mittagessen „käme den Kindern in sozial benachteiligten Stadtteilen zugute“ und würde dort hervorragend angenommen.

Für die GAL betonte deren Stadtentwicklungsexperte Claudius Lieven, unter der CDU-Regentenschaft sei die „Hamburger Wachstumsdynamik zum Erliegen gekommen“: Mit „utopischen Annahmen“ würde der Senat sich an seine Vision der wachsenden Stadt klammern. Die Realität sei aber, „dass soviele Familien ins Umland abwandern, wie seit Jahren nicht mehr“. Da die Sparmaßnahmen vor allem Familien träfen, läge die Stadtflucht „in der direkten Verantwortung des Senats“.

Die SPD-Sozialexpertin Andre Hilgers warf dem Senat zudem vor, „nichts für Familien und Kinder zu tun, die Hilfe brauchen“. So würden durch die neuen Vergabekriterien für Kitaplätze „gerade die Kinder“ ausgegrenzt, „die diese Betreuung am nötigsten haben“. GAL-Fraktionsvorsitzende Christa Goetsch forderte vom Senat, „Konzepte für den Wohnungsbau zu entwickeln“. Nur so könne es gelingen „Familien aus allen sozialen Schichten in die Stadt zu holen um so das Konzept der wachsenden Stadt mit Leben zu erfüllen. Nachdem sich die überrumpelten Christdemokraten während der Debatte wegduckten, fanden sie nach deren Abschluss zumindest zu körperlicher Präsenz zurück: Als es um die Ablehnung des SPD-Antrags „Menschliche Metropole“ ging, hoben alle CDU-Abgeordneten die Hände.