: Kaiser Wilhelms Spuren auf Okinawa
Auf der japanischen Insel Miyako ist zwischen tropischen Schlingpflanzen ein „deutsches Dorf“ entstanden ■ Von Angela Braun/Annemarie Leopold/Irmgard Schramm
Regenzeit: Luftfeuchtigkeit 95 Prozent, Höchsttemperatur 30 Grad Celsius. Seit Wochen nur Regen. Alltagstrott, Alltagsstreß in der Zwölf-Millionen-Metropole Tokio. Und dann – ein Anruf: auf der kleinen Insel Miyako im Okinawa-Archipel, den südlichsten Inseln Japans, werden ein paar Deutsche gesucht, die anläßlich der Eröffnung eines deutschen Kulturdorfes mitwirken sollen. Uns drei in Tokio ansässigen Deutschlehrerinnen fällt die Entscheidung nicht schwer, zehn Tage auf einer tropischen Insel mit weißen Stränden und türkisblauem Meer zu verbringen.
Eigentlich fing alles vor 120 Jahren an. Am 2. Juli 1873 lief das preußische Handelsschiff „R.J. Robertson“ während eines Taifuns auf ein Korallenriff einen Kilometer vor dem Dorf Ueno an der Südküste der Insel Miyako auf. Nach neuntägigem Kampf mit dem Taifun zerschellte der Schoner schließlich am 11. Juli. Das Schiff hatte in Fukushu, China, Salz gegen chinesischen Tee eingetauscht und befand sich auf dem Weg nach Australien.
Einige tapfere Inselbewohner, die das Schiff vor der Küste entdeckten, wagten sich in die rauhe See, doch beim Anblick der blauäugigen Langnasen befiel sie die Angst. Letzten Endes siegte aber doch die Hilfsbereitschaft über ihre Angst, und sie riskierten einen zweiten Versuch. So konnten alle acht Besatzungsmitglieder gerettet werden. 37 Tage lang genossen die deutschen Männer herzliche Gastfreundschaft, bis ein Schiff zur Heimkehr bereitgestellt werden konnte. Kaiser Wilhelm I. war vom Bericht des Schiffskapitäns so beeindruckt, daß er die tollkühne Rettung mit einem Gedenkstein für die Inselbewohner würdigte. Das Denkmal mit deutscher und japanischer Inschrift steht heute in der Stadt Hirara am Hafen, denn damals war man nicht in der Lage, den Koloß über die halbe Insel bis vor das verhängnisvolle Korallenriff zu transportieren.
Dieses Ereignis wäre längst vergessen, wenn nicht die Nachfahren der Retter sich entschlossen hätten, zum Gedenken ein deutsches Kulturdorf zu errichten. Der Plan entstand 1987, die Einweihung findet am 14. Juli 1993 statt, pünktlich zum 120jährigen Jubiläum der erfolgreichen Rettung.
Bis es soweit war, fuhren mehrere Gemeinde-Delegationen zur Inspiration und Feldforschung nach Deutschland, um geeignete Modelle für den Bau des Dorfes zu erkunden. Schließlich entstand nach dem Vorbild von Schloß Mainau (Bodensee) das prachtvolle Hotel „Hakuai Palace Kan“ an der felsigen Südküste der Insel. Vom Hotelfenster schweift der Blick auf das besagte Korallenriff. Dieses „Hotel der Brüderlichkeit“ ließen sich die Insulaner 12 Millionen Mark kosten.
Tritt man in die Eingangshalle, fällt der Blick auf dezente Kaiser- Wilhelm-Tapeten. Der bereits bestellte Gobelin mit mittelalterlichen Motiven ist noch nicht eingetroffen. Das Speisezimmer in zartem Grün, englisch möbliert, bietet „Nouvelle cuisine“ unter goldenen Kronleuchtern, geschmackvoll von Chefkoch Shinsato zubereitet und von ihm selbst serviert. Alle 29 Zimmer bieten besten europäischen Komfort. Hier hätte sich auch Kaiser Wilhelm zu Hause fühlen können.
Blickt man vom Schloßhotel landeinwärts, ragt ein Kirchturm aus den Zuckerrohrfeldern hervor. Doch eine Kirche kann es nicht sein, denn das Gebäude geht etwas atypisch in eine Burgmauer über. „Das ist das Kinderhaus“, erklärt Bürgermeister Sunagawa. Hier sollen den Dorfkindern deutsche Kultur und Sprache auf spielerische Weise beim Backen und Basteln nähergebracht werden. Vor dem Kinderhaus will man die zwei mit Graffiti besprühten Segmente der Berliner Mauer aufstellen, die zur Zeit vor dem Bürgermeisteramt in der Sonne langsam verblassen. Die Graffiti zeigen noch keine Spuren der Zerstörung durch Mauerspechte, so daß der Ankauf sehr früh erfolgt sein muß. Sollten wir etwa die Öffnung der Mauer den Japanern zu verdanken haben?
Einen Steinwurf vom Kinderhaus entfernt ist eine Fachwerkhäuserzeile geplant. Als Modell kam natürlich nur Stade in Frage, weil die ursprüngliche Fracht des gesunkenen Schiffes dorther kam. Daher auch der Wunsch der Gemeinde Ueno nach einer Städtepartnerschaft mit Stade. Schließlich hat Stade ja Salz und Ueno Zucker, in Stade ist es kalt, in Ueno heiß, Stade hat etwa 35.000 Einwohner, und Ueno hat eine Null weniger. Nachdem sich die Stadt Stade geweigert hat, eines ihrer Originalhäuser zu verkaufen, entschlossen sich die flexiblen Planer, eine ganze Stader Fachwerkhäuserzeile einfach nachzubauen.
Gekrönt wird das Projekt mit einer Imitation der Marksburg vom Rhein. Diese soll bis 1995 vollendet in ihrer ganzen romantischen Schönheit erstrahlen. Scheinbar hat man erst gar nicht versucht, die Marksburg im Original zu erstehen.
Am Tag der Eröffnung stehen wir schon um 8 Uhr morgens in der Küche, um unseren kulturellen Beitrag zur deutsch-japanischen Freundschaft zu leisten: für die zu erwartenden zwei- bis dreitausend Gäste deutsches Essen zu kochen. Würstchen, Kartoffeln, Kraut ... Der Eintopf gelingt uns wunderbar. Mit Alpenschürzen drapiert, führt man uns zur Eröffnungsparade. Ein bunter Zug hat sich bereits auf dem Dorfplatz von Ueno zusammengefunden. Jede Gruppe hat ihr eigenes Thema: junge Samurai, laufende Bierhumpen und Bratwürstchen neben japanischen Parademädchen mit schwarzrotgoldenen Bändern und Hula- Hula-Tänzerinnen. Unsere kleine „Schürzengruppe“ schließt als „schönste Blume“ (der Alpen natürlich) den Zug ab. Es hat 40 Grad Hitze unter praller Sonne. Nicht alle japanischen und deutschen Papierfähnchen halten es bis zum Kinderhausplatz durch, wo unter schattigen Zelten kühles deutsches Bier den Durst löscht. Die grelle Schminke rinnt ins warme Bier. Unsere „exotischen“ Gerichte, neben Eintopf vor allem die Bratwürste, werden uns buchstäblich aus den Händen gerissen.
Der deutsche Konsul aus Kobe ist extra zur Eröffnung angereist, um zusammen mit anderen Würdenträgern das weiße Band zu durchschneiden. Die Art und Weise, wie er die japanisch-deutsche Freundschaft mit dem Kriegsbündnis verknüpft, ist zwar äußerst peinlich, aber man kramt eben auch die allerletzte Gemeinsamkeit aus.
Inzwischen haben Tausende den Platz gefüllt. Zur Unterhaltung wird natürlich auch deutsche Volksmusik geboten. Eine bayrische Musikantengruppe in Dirndl und Lederhosen mit Wadenwärmern ist für den großen Tag eingeflogen worden. Deutsch-japanische Freundschaft live. Die traditionellen Tänze der Einheimischen und ihre mit Jauchzern durchsetzten Lieder, fügen sich bestens zum bayrischen Jodeln. Und auch die Trinkfestigkeit verbindet. Kein Anlaß zum Trinken wird ausgelassen. Dazu braucht man nur ein Glas und viel gebrannten Reis, der hier „Awamori“ genannt wird. Einer füllt das Glas, hält eine Ansprache und leert es auf einen Zug. Dann füllt er das Glas wieder und geht damit zum nächsten, der es dankbar hinunterkippt. Unter Beifall und Gejohle wird so Runde um Runde gedreht. Jeder hat die Ehre, einmal das Glas reihum zu füllen. Die Bauern und Fischer der Insel sind trinkfest.
Mit der Errichtung des deutschen Kulturdorfs soll sich ihnen nun ein neuer Wirtschaftszweig erschließen. Das romantische Stück Deutschland soll Touristen aus Osaka, Tokio und anderen japanischen Großstädten anlocken. Die Tokioter zum Beispiel können ab sofort in weniger als drei Stunden zweimal täglich Miyako anfliegen, sich am Strand tummeln, gemütlich einen kühlen Papayasaft schlürfen und urgemütliches Deutschland schauen. Einige wenige Fischer haben sich bereits auf Taucher- und Anglerkundschaft umgestellt. In unmittelbarer Nähe des deutschen Kulturdorfes befindet sich ein zweites Luxushotel mit über 100 Zimmern.
Miyako ist nicht die erste in Erfüllung gegangene japanische Deutschlandvision. Auf der nördlichsten Insel Japans, Hokkaido, wurde vor vier Jahren das „Glückskönigreich“ eingeweiht, eine skurrile Mischung von Burgen, Schlössern und Würstchenbuden, die das Deutschlandbild der Japaner widerspiegelt. In Nagasaki steht schon ein „Holländisches Dorf“, und das erst neu eröffnete „Tobu World Square“ in Kinugawa lockt die Besucher mit Sehenswürdigkeiten aus aller Welt. Hier wirbt man mit dem Slogan: „In einem Tag um die Welt“. Wenig Urlaub, wenig Zeit – die Japaner verstehen es eben, rationell zu wirtschaften.
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