KULTURELLE IMPERATIVE MACHEN STRESS, ZUM BEISPIEL DIE BEDINGUNGSLOSE LIEBE ZUM KIND : Der kleine Überwachungsstaat in den eigenen vier Wänden
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Der „Long Tail“ der Debattenkultur: Manche Auseinandersetzungen mäandern auf Facebook monatelang vor sich hin, schlafen schon ein und werden dann durch den Kommentar eines zu spät Gekommenen aus dem digitalen Archiv gezerrt. Nachträglich klinkte auch ich mich bei einer Meta-Debatte über eine FAZ-Debatte ein. Gepostet hatte jemand einen Artikel von Antonia Baum mit dem defätistischen Titel „Man muss wahnsinnig sein, heute ein Kind zu kriegen“. Darin schrieb die Autorin über ihre Angst davor, Kinder zu haben, und über ihre Angst vor dem kapitalistischen Perfektionsdruck.
Baum forderte vom Staat eine andere Zeitpolitik: Es müsse für Mütter und Väter weniger fürs gleiche Geld gearbeitet dürfen. Es folgten weitere Texte in der FAZ, die ihr Jammerei vorhielten, und Überschriften mit fetten Ausrufungszeichen: „Ihr wollt Kinder? Dann kriegt sie doch!“ und „Ruhe, ihr Jammer-Frauen!“
Nun stehen Artikel wie der von Antonia Baum für die obsessive Selbstreflexion, mit der viele, die übers Elternwerden nachdenken, das Kinderthema bearbeiten. Nicht ganz zu Unrecht sind ja Eltern ein beliebter pathologischer Fall für die Feuilletonisten geworden. Zeitdiagnosen über überaufmerksame, in manische Ersatzhandlungen verstrickte Eltern schreiben sich fast von selbst und sind durchaus für eine amüsante Polemik gut: „Mag die Welt untergehen, das Kind und der Cupcake, an den es sich klammert, sind jedenfalls garantiert glutenfrei“, schrieb Nina Pauer kürzlich in einem Zeit-Beitrag über „die neue Hysterie ums Kind“.
Die erwähnte FAZ/Facebook-Debatte zeigte darüber hinaus, dass es Eltern heute vorrangig darum zu gehen scheint, jeglichen Zweifel aus dem „Projekt Baby“ zu eliminieren. Für den Weg zur Eindeutigkeit sind zwei Methoden im Angebot: Dezisionismus oder Delegation. Wer wider alle Gegenargumente die existenzielle Entscheidung für Kinder auf sich nimmt, bäumt sich gleichsam heroisch gegen die Umstände auf und „kriegt sie doch einfach“. Als einzige Alternative bleibt dann angeblich, eben diese Entscheidung so weit wie möglich an die Allgemeinheit zu abzutreten. Dies scheint der Weg von Antonia Baum zu sein, die vom persönlichen Entscheidungsstress durch staatliche Maßnahmen entlastet werden will. Prompt wurde sie wegen der angeblich unheroischen Lappigkeit dieser Haltung als „Jammer-Frau“ denunziert.
In beiden Varianten wird dem Zweifel am Kind ausgewichen, er wird übersprungen oder wegrationalisiert. Sollte es aber nicht noch einen dritten Weg geben, einen, der Raum für das Kind und den Zweifel am Kind gibt? Hilfreich könnten hier die Texte des Psychoanalytikers Donald W. Winnicott sein. Winnicott, der vor allem durch sein antiidealistisches Konzept der „hinreichend guten Mutter“ („good enough mother“) bekannt wurde, war sehr um die Popularisierung der Psychoanalyse bemüht und hielt von 1939 bis 1962 über fünfzig Radioansprachen an Eltern. Man muss allerdings seine heute inakzeptable Reduktion der Eltern auf die Mutter genauso einklammern wie in Platon-Dialogen die Selbstverständlichkeit der Sklaverei.
Mit wohltuender Direktheit beschreibt Winnicott beispielsweise in seinem Buch „Kinder. Gespräche mit Eltern“ Kinder als invasive Monster, denen die Eltern schutzlos ausliefert sind: „Die Quelle ihrer [der Mutter, A. L.] Energien wird gefunden und angezapft, und das immer und immer wieder bis zum Gehtnichtmehr. Ihre wichtigste Aufgabe ist zu überleben. Bis zum Gehtnichtmehr.“
Das Kind ist der kleine Überwachungsstaat in den eigenen vier Wänden, denn „es erhebt Anspruch auf alle Ihre Geheimnisse“, was den „Verlust der Privatsphäre“ zur Folge habe. Kinder sind in Winnicotts Beschreibungen nervig und oft hassenswert. Seine realitätsnahen Texte sind damit ein Mittel gegen den kulturellen Imperativ der „bedingungslosen Liebe“ zum Kind. Dessen Unhinterfragbarkeit dürfte längst mehr Stress und schlechtes Gewissen erzeugen als alle neoliberalen Perfektionszwänge zusammen. Winnicott empfiehlt, die Widersprüche nicht auflösen zu wollen, stattdessen sei zu akzeptieren, dass das Elternglück nicht ohne Unterwerfung zu haben ist. Was bleibt, ist die fröhliche Kapitulation: „Ich glaube, es wird auch in Zukunft so sein, dass Kinder ihren Müttern auf die Nerven gehen und Mütter froh und glücklich sind, Opfer ihrer Kinder sein zu dürfen.“
■ Aram Lintzel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Grünen-Bundestagsfraktion und freier Publizist