: Juwele im Steinbruch – zum Sprengen freigegeben
■ Blut gegen Spielzeugwaffe: Sophokles, Euripides und ein Stück von Meier beim „Sprungbrett“-Festival im Jungen Theater
Von einer klassischen Sinfonie nur einen einzigen Satz aufzuführen, das wäre noch immer ein Sakrileg. Im konservativeren Musikbetrieb ist der Werkbegriff noch immer unangetastet. Spätestens seit Einar Schleef Stücke tranchiert und auch schon mal mit der Pension-Schöller-Kolportage fusioniert, gilt das Werk im Theaterbusiness nicht mehr als unzerteilbares Juwel, sondern als Steinbruch, freigegeben zum Sprengen, als Kartenspiel, das neu durchmischt werden will.
Auch (aber beileibe nicht nur!) unter diesem Aspekt war es hochinteressant, was uns da die Regieklasse Jürgen Flimms und Manfred Braunecks vom „Institut für Theater, Musiktheater und Film“der Universität Hamburg für das Newcomer-Festival „Sprungbrett '97“im Jungen Theater zusammencollagiert hat. Da setzte das kabarettnahe „Vogelgezwitscher“eines gewissen Marc Meier einen genialisch-grellen Kontrapunkt zu drei Szenen aus zwei Klassiker-Hits: Sophokles „Elektra“und Euripides „Medea“.
In allen vier Szenen geht es um Positionskämpfe zwischen zwei Figuren, Anpassung oder Widerstand, Nähe oder Distanz, Haß oder Versöhnung, Liebe oder Sadismus. Die Klassiker-Studien benutzen dabei die große Geste, den Kniefall, das Bodenwerfen, den Schrei. Meiers Lustspiel um die Lust hingegen spielt mit ebendiesen Gesten, pervertiert und entlarvt sie. Eine spannende Konstellation. Irgendwie könnte man – wenn man gemein ist – das letzte Stück als kritische Hinterfragung der Regiearbeit der Vorgänger sehen.
Das „Sprungbrett“-Festival zeigt keine Produktionen von routinierten Hasen, sondern Testläufe, Erprobungsphasen, Laborarbeit zur Genese neuer Mittel. Das Erstaunliche dabei: Es kann viel aufregender sein, einem wackeligen, doch engagierten Versuch beizuwohnen, als drög-solider Unanfechtbarkeit. Der Besucher des Festivals sieht Gesten, die sich manchmal noch quer stellen zum Körper, dem sie abgefordert werden, aber auch Mimik, die anfängt, sich in immer tiefere Muskelfasern durchzufressen, also: Die mal mehr, mal weniger gelungene Angleichung von Software und Hardware des Schauspielers, von Ausdruckswillen und Ergebnis. Er beobachtet Symbole – bei den Hamburgern offensichtlich gern Blut, Ei und Geschmiere –, wie sie floppen und wie sie zünden. Mit anderen Worten: Er verfolgt Handwerk beim Wachsen – und Gedeihen. Da gibt es die Lust an der genauen Choreographie, aber auch die Selbstbeschränkung zu größter Kargkeit: Ein Kleid, ein Ei, eine Axt, und sonst weg mit allem Ausstattungsplunder.
Wer sein Brechtsches Bewußtsein schärfen möchte, wer nicht vergessen will, daß Theater kein Naturereignis ist, sondern gemacht wird, der sollte also unbedingt vorbeischauen beim Jungen Theater. Meiers Vogelzwitschern will jetzt aber doch noch schnell erzählt werden: Da bemühen sich eine Frau und ein Mann, Trottel des Alltags wie Du (und ich), um ein Ping-Pong einschlägiger Geselligkeitsgesten, aber alles stockt, holpert und stottert ganz erbarmungswürdig. Es rettet schließlich eine Plastikpistole. Sie setzt Western- und Krimi-Erinnerungen frei, und plötzlich flutscht die Rollen-Verzahnung zwischen Mann und Frau. Aber nicht lange. Alles endet in einem getuehaften Quasseln über Getue. Es gibt kein Entrinnen vor dem umfassenden Schau-Gespiele.
Vor dem Schauspielen aber hoffentlich auch nicht. Einfach hingehen, angucken, nachdenken. Am 6. Juni zeigt die Hamburger Hochschule eine Inszenierung von Shakespeares „Kaufmann von Venedig“. Am 7. Juni versucht sich die Freiburger Schauspielschule an Büchners „Leonce und Lena“. Und am 8. Juni macht der Titel „Meine erste Frau hieß Zwieback. Das Leben des Armand Schulthess“neugierig. Barbara Kern
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