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Justiz soll »Wilde Wutz« schlachten

■ Den letzten besetzten Häusern West-Berlins droht die Räumung/ Gegen die Bewohner sollte gestern der Räumungsprozeß beginnen/ Prozeß verschoben: Landgericht prüft erst seine Zuständigkeiten

Charlottenburg. Von einem sauberen West-Berlin ohne Hausbesetzer hat der frühere Innensenator, CDU- Rechtsaußen Heinrich Lummer, bei seinem Amtsantritt 1981 immer geträumt. Elf Jahre später scheint sich sein Herzenswunsch zu erfüllen. Den beiden letzten von schwarzgekleideten jungen Menschen okkupierten Gebäuden — im Westteil der Stadt — in der Charlottenburger Marchstraße 23 und am Einsteinufer 41 droht die Räumung. Nach dreijähriger Duldung hat die Eigentümerin der Häuser, die Henning, von Harlessem und Co. GmbH, im September letzten Jahres überraschend Räumungsklagen gegen das »Wilde Wutz« getaufte Projekt eingereicht, die gestern vor dem Landgericht zur Verhandlung anstanden.

Von der befürchteten »Klassenjustiz« war im Gerichtsgebäude am Tegeler Weg nichts zu spüren. Die Richter setzten den Prozeßtermin besetzerfreundlich erst um 12 Uhr an, und der Polizeipräsident sorgte dafür, daß 300 Beamte rund 150 Prozeßbeobachter vor Spekulanten schützten. Zudem gab das Landgericht dem Antrag der Besetzer statt, seine Zuständigkeit zu überprüfen. Die Richter fanden den Hinweis der »Wilden Wutz«, das Amtsgericht müsse die Räumungsklagen verhandeln, nicht unbegründet und setzten den Prozeß vorerst aus. Um nicht »umsonst« erschienen zu sein, marschierten die Besetzer und Freunde zum Rathaus Charlottenburg.

Dort sitzt mit Baustadtrat Claus Dyckhoff (SPD) derjenige, den die »Wilde Wutz« für den Räumungsprozeß verantwortlich macht. »Dyckhoff hat die ausgelaufene Abrißgenehmigung für unsere Häuser verlängert«, schimpfte ein Besetzer, »und damit der Henning, von Harlessem und Co. GmbH signalisiert, daß das Bezirksamt keine Legalisierung mehr wünsche«. Dyckhoff war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

So festgefahren waren die Positionen nicht von Anfang an. In der Koalitionsvereinbarung unterstützten SPD und AL das Vorhaben der »Wilden Wutz«, in den besetzten Häusern neue Wohnungen, Projektwerkstätten, eine Kita und Treffpunkte zu schaffen. Die Verhandlungen kamen nicht voran. Schuld waren in erster Linie überzogene Preisforderungen der Eigentümerin, aber auch die Verhandlungsbereitschaft der SPD nahm ab, je öfter die Besetzer von der Polizei Besuch bekamen und die CDU gegen das »Terrornest in Ku'damm-Nähe« polemisierte.

Nach Auffassung der Bündnis 90/ Grünen-Fraktionschefin Renate Künast ist es »nur der AL zu verdanken, daß die Leute immer noch in den Häusern drin sind«. Heute bestünde dagegen die größte Schwierigkeit darin, die genauen Planungen für das Gelände herauszufinden. Im Abgeordnetenhaus kündigte Künast dazu eine Anfrage an.

Als Retter in letzter Not bot sich unterdessen der Fachbereichsrat Architektur der Technischen Universität an. Seine Mitglieder schlugen dem Senat vor, auf dem Gelände Marchstraße/Einsteinufer ein »studentisches Praxisprojekt« durchzuführen, das sowohl die Umsetzung des Konzepts der »Wilden Wutz« als auch den Neubau eines Studentenwohnheims auf dem benachbarten Parkplatz vorsieht. Falls sich Bausenator Wolfgang Nagel davon nicht begeistern läßt, bliebe nur noch Kultursenator Ulrich Roloff-Momin. Schon Anfang des Jahres kam in AL- Kreisen der Vorschlag auf, die Charlottenburger Häuser als »Museum der Westberliner Hausbesetzerbewegung« zu erhalten. Micha Schulze

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