: Juristische Züchtigungsgesten
■ Ostberliner Psychiater und seine Kollegin stehen wegen "Gefangenenbefreiung" vor Gericht, weil sie alten Mann entlassen und im Seniorenheim untergebracht haben / Staatsanwaltschaft beharrt auf Strafe
„Die sind einfach verfolgungswütig“, beklagte Strafverteidiger Wolfgang Kaleck die Hartnäckigkeit der Staatsanwaltschaft beim gestern anberaumten Prozeßtermin gegen zwei Ostberliner Psychiater. Die Anklagevertretung wirft dem 43jährigen Chefarzt Matthias L. und seiner 52jährigen Kollegin Maria-Gabriela R. gemeinschaftliche Gefangenenbefreiung vor. Die Beschuldigten sollen im September 1991 einen Patienten aus der psychiatrischen Abteilung des Klinikums Buch entlassen haben. Dieser war auf Gerichtsbeschluß im März 1991 als „Maßregelpatient“ in die psychiatrische Klinik eingewiesen worden. Diese Einweisung geschieht auf unbestimmte Zeit, schlimmstenfalls lebenslänglich.
Der heute sechzigjährige Mann hatte 1989 in Ostberlin im Zustand einer akuten Psychose ein Körperverletzungsdelikt begangen. Der DDR-Staatsanwalt hatte seinerzeit entschieden, daß der Mann zur Tatzeit nicht schuldfähig war. Ein Zivilgericht hatte den Kranken in die psychiatrische Klinik Buch eingewiesen, wo er von den Angeklagten behandelt worden war. Der renommierte Psychiater Matthias L. und seine Kollegin hatten nach eingehender Untersuchung prognostiziert, daß von dem Mann keine weiteren Straftaten zu erwarten seien, und den Mann in einem Seniorenheim untergebracht. In der DDR war dies üblich. Inzwischen halbwegs mit der BRD- Rechtsprechung vertraut, nach der für eingewiesene Psychiatriepatienten die Strafvollstreckungskammer zuständig ist, wurde diese durch das Klinikum Buch informiert. Die Strafvollstreckungskammer sah in der Unterbringung im Seniorenheim einen Straftatbestand. Die Staatsanwaltschaft ordnete die Verhaftung des Mannes an, ließ ihn ins Klinikum Buch zurückverlegen und klagte Matthias L. und Maria-Gabriela R. wegen Gefangenenbefreiung an.
Beim ersten Prozeß gegen die Ärzte im November 1993 schlug der Richter die Einstellung des Verfahrens gegen ein Bußgeld vor. Der Angeklagte lehnte das jedoch ab. Das angerufene Bundesverfassungsgericht entschied im März, daß die von einem DDR-Zivilgericht eingewiesenen Patienten im juristischen Sinne keine Maßregelpatienten und damit der Strafvollstreckungskammer nicht unterstellt sind. Folglich konnte die Entlassung des Patienten in ein Seniorenheim keine Gefangenenbefreiung sein. Doch die Jagd nach Sündenböcken kennt keine Schonzeiten. Die Staatsanwaltschaft argumentierte, daß der Psychiater und seine Kollegin 1991 davon ausgehen mußten, daß der entlassene Patient den Strafvollzugsbehörden unterstehe. Somit hätten sich Matthias L. und Maria-Gabriela R. der versuchten gemeinschaftlichen Gefangenenbefreiung schuldig gemacht. Die Staatsanwaltschaft besteht auf einer Geldbuße. „Eine reine Züchtigungsgeste“, schimpfte Rechtsanwalt Kaleck.
Weil die mitangeklagte Ärztin nicht erschien, mußte der gestern anberaumte Prozeß bis Dezember vertagt werden. Peter Lerch
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