: Jubel beim Kreisel
Fortsetzung des Kunstturnens mit anderen Mitteln bei der Aerobic-WM in Australien ■ Aus Perth Thomas Schreyer
Die Gesichter waren lang, als die Delegationsleiterin ihre bundesdeutschen Schützlinge fragte, ob sie sich schon um ihre Trainingsmöglichkeiten gekümmert hätten. Der Veranstalter tat es nicht. Am anderen Ende der Welt schien es den Organisatoren zu genügen, die Halle einen Tag vor der 3. Aerobic-WM zu öffnen. Also kämpften 500 Aktive darum, noch freie Plätze in den Fitneßstudios von Perth zu ergattern. Wer Glück hatte, durfte dann den Geldbeutel weit öffnen. „Das ging auf unsere Kosten“, sagten die Deutschen, jammerten aber kaum, als sie früh morgens um sechs die ersten Studio-Besucher waren.
In der Aerobic ist derlei normal. Bis kurz vor Abflug gingen die DTB-Aktiven ohnehin davon aus, alles selbst bezahlen zu müssen. Dafür haben sie auch bei der letzten nationalen Meisterschaft in Berlin eine Erklärung unterschrieben. Über Verein und Landesverband – so bei Dana Nolte aus Ulm – oder den persönlichen Sponsor – wie bei Marcio de Oliveira aus Mettmann – wurden die Reisespesen organisiert.
Daß in der Aerobic einiges im argen liegt, weiß man inzwischen. Die rasante Entwicklung und der damit verbundene Zulauf ist zu schnell fortgeschritten und hat die meisten Verbände überfordert. „Es gibt einfach noch keinen Etat für diese junge Sportart“, entschuldigt sich Hans-Jürgen Zacharias, Vizepräsident des Deutschen Turner-Bundes (DTB).
Kaum war das finanzielle geklärt, drohte ein anderes Desaster. Erst nach der Ankunft in Australien erfuhr die deutsche Meisterin Dana Nolte, daß sie ihre Kür würde völlig umstellen müssen. Daß die Ulmerin erst vor wenigen Wochen ebenso überraschend wie überlegen den Titel gewann, lag an den Wertungsvorschriften. Denn widersinnigerweise wird in Deutschland ein anderer „Code de Pointage“ verlangt als bei internationalen Wettkämpfen. Fünf Tage blieben
ihr, die
Kür neu zu choreographieren und einzuüben.
Das gute Abschneiden des Hallenser Paares Daubner/Harvey und die überraschende Final-Teilnahme des Frauen-Trios aus Halle täuschen kaum darüber hinweg, daß es in der Bundesrepublik nicht nur an finanzieller Unterstützung fehlt. Auch an Trainern herrscht akuter Mangel. Marcio de Oliveira wurde vor fünf Jahren aus Brasilien geholt, um den Nachwuchs zu betreuen. Zur Zeit ist er selbst weit und breit der beste Aktive und rechnete sich in Perth sogar Finalchancen aus, die aber durch eine miserable Tagesform jäh zerstört wurden. Wie Oliveira sind auch die anderen immer ihre eigenen Trainer. Das weibliche Trio aus Halle weiß oft nicht einmal, wo überhaupt das Training stattfinden soll. „Es kommt vor, daß wir erst ab 22 Uhr einen freien Raum bekommen“, erklärt Marie-Catherine Bösa.
Derartige Zustände vergrößern den Abstand zur Spitze. Und der ist eh schon groß, weil die Konkurrenten allesamt vom Kunstturnen oder der Sportgymnastik kommen. Mit dem vorgeschriebenen Mindestalter von 19 Jahren drängt sich der Sport denen, die mit dem Kunstturnen aufhören, geradezu auf. Meist übertragen die einstigen Turnerinnen und Turner ihre Schwierigkeiten in den Aerobic- Sektor und trainieren oft mit gleichem Aufwand wie vorher weiter, bis zu 30 Stunden pro Woche. Dabei werden viele Elemente übernommen. Schon werden die ersten Thomas-Kreisel (offene Bein- Scheren am Boden) gezeigt, sensationellerweise auch bei den Frauen, wie Chloé Maigre aus Frankreich demonstrierte.
Die Fans honorieren die Auftritte ihrer Stars mit Beifallsstürmen. Aerobic scheint überall auf der Welt die Hallen zu füllen, die Begeisterung ist riesig. Nach der knapp verpaßten Olympianominierung für Sydney 2000 ist man fast sicher, die Anerkennung 2004 zu erhalten. Nur wird die Fitneßbewegung darauf achten müssen, das Wettkampfprogramm nicht weiter auszudehnen. In Perth durften vor der offiziellen WM sogenannte „Step-Teams“ antreten. Für Treppchensteigen im Gleichschritt sind demnächst dann wohl auch offizielle Medaillen zu erwarten.
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