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Archiv-Artikel

Jenseits des Liebeswahns

Lange galt Stalking als Phänomen, das nur Prominente betrifft. Doch es ist weit verbreitet. Erst seit wenigen Jahren wird es wissenschaftlich erforscht – und neuerdings auch bestraft

VON RENÉE ZUCKER

John Hinckley Jr. hatte eine Obsession: Jodie Foster. Seitdem er sie in dem Film „Taxi Driver“ gesehen hatte, stellte er ihr nach und suchte ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken. Er wollte ein Flugzeug entführen, vor ihren Augen Selbstmord verüben oder den Präsidenten der Vereinigten Staaten töten. Schließlich gelang es ihm immerhin, Ronald Reagan beinahe zu erschießen. Seitdem ist er der berühmteste Stalker der Welt. Das war 1981, und Jodie Foster fühlte sich über Jahre traumatisiert.

Lange Zeit galt das Belästigen durch Briefe, Telefonate oder Auflauern als Phänomen, das nur Prominente betrifft. Wenn normale Frauen zur Polizei gingen, weil ein Expartner vor ihrer Haustür herumlungerte oder sie auf dem Weg zur Arbeit verfolgte, weil sie nachts durchs Telefon oder die Türklingel aus dem Schlaf gerissen wurden – kurz: weil sie sich bedroht fühlten, dann wurden sie eher verlacht. Im besten Fall bescheinigten ihnen die Beamten achselzuckend, dass man nichts machen könne, bevor nicht wirklich eine handgreifliche Bedrohung vorliege.

Erst seit dem Ende der Neunzigerjahre beschäftigt sich die Wissenschaft mit dem Phänomen des Stalkings und seinen Opfern. Seit März dieses Jahres schließlich werden Stalker in Deutschland nach Paragraf 238 Strafgesetzbuch bestraft. Ihnen drohen bis zu fünf Jahren Gefängnishaft, in besonders schweren Fällen sogar bis zu zehn Jahren.

Diese Nachricht hat nur die überrascht, die nicht wussten, dass Stalking einen erheblichen Teil der Bevölkerung trifft. Eine Befragung von 70.000 Menschen ergab: 24 Prozent der Frauen und 10 Prozent aller Männer waren mindestens einmal im Leben in der ein oder anderen Weise von Stalking betroffen. In den meisten Fällen stellte ein gekränkter verlassener Mann seiner Expartnerin nach, seltener ist es umgekehrt.

Der Verlag der Polizeiwissenschaften beschäftigt sich normalerweise mit Belangen der Polizei – von Fragen der Berufsethik über Verkehrsüberwachung bis zu Täterprofilerstellung oder Prognosen von Täterverhalten bei Geiselnahmen. Da dürfte einige Lektüre mindestens so aufregend sein wie das Gucken der TV-Serie CSI. Jens Hoffmann und Hans-Georg W. Voß’ Buch zur „Psychologie des Stalking“ ist aber gerade wegen der Alltäglichkeit des Problems nicht nur für Experten, sondern auch für Betroffene interessant. Für Opfer und Täter – Letzteren wird in den psychologischen Erklärungen eingeräumt, dass auch sie in gewisser Weise Opfer sind oder zumindest waren.

Dass die meisten Stalking-Opfer weiblich sind, könnte daran liegen, dass Männer es nicht öffentlich machen, wenn sie sich verfolgt fühlen, denn – wie es an einer Stelle heißt: „Männern ist es in unserer Gesellschaft verwehrt, darauf zu insistieren, dass sie Opfer sind.“ Man stelle sich die Szene vor, dass sich ein Mann über Nachstellungen einer Frau bei der Polizei beschwert – „Na, freuen Sie sich doch“, dürfte die netteste Reaktion sein.

Das Problem von männlichen wie weiblichen Opfern ist tatsächlich dieses unheimliche Gefühl der Bedrohung, das schon scheinbar harmlose Telefon- oder Türklingeleien, Briefe oder SMS hervorrufen.

Die verschiedenen Autoren dieses Bandes beschäftigen sich mit den Details des Phänomens – wann, wie, wo – wie auch mit den nicht unerheblichen Folgen für die Opfer. Bei „hartem“ Stalking müssen sie oftmals Wohnort und Arbeitsplatz verlassen – und damit ihr ganzes Leben ändern. Hier hätte man sich noch ein wenig mehr Material über die Opfer gewünscht. So heißt es nur, Selbstunsicherheit sei bei ihnen besonders ausgeprägt.

Aber in dem Band geht es vor allem um die Täter, ihre Typologien und eventuelle Interventionen. Stalkingverhalten ist ganz eindeutig eine Fehlentwicklung. Da sowohl die Verhaltensweisen wie auch die Persönlichkeitsstrukturen der Stalker sehr breit gefächert sind (von „Klingelstreichen“ bis Gewalttätigkeit) sei hier nur eine grobe Einordnung in die sogenannte Bindungsstörung einerseits und ein Spaltungsphänomen andererseits wiedergegeben: Extreme Idealisierung des Opfers wechselt mit Abwertung bei eventueller Zurückweisung; zugleich ist das Selbstbewusstsein des Täters gebrochen.

Stalker verfügen in der Regel sowohl sozioökonomisch wie im Hinblick auf emotionale Konfliktbewältigung über geringe Ressourcen. Die beste Melange von narzisstischer Störung und dem ganzen Piff und Paff infantiler Persönlichkeiten. Signifikanter Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Stalkern ist die höhere Gewaltbereitschaft bei Männern und die bei ihnen stärker sexuell motivierte Eifersucht.

Was den Umgang mit Stalking so lange so kompliziert gemacht hat, war die Unsicherheit darüber, ab wann eigentlich die „Beobachtung“ einer Person oder gar die Verfolgung nicht mehr zum kulturell oder sozial akzeptierten Beziehungsspiel gehört, das man gemeinhin auch den „Liebeswahn“ nennt. Zumal die meisten Stalker im sozialen Umfeld des Opfers zu suchen sind und eben sehr häufig sexuelle Beziehungen vorausgingen.

Hier liegt über eine eventuelle Betroffenheit hinaus der spannende Aspekt dieses Buches: Es ist auch eine Beschreibung der Entwicklung unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Man lernt – eines meiner Lieblingskapitel – das Stalking evolutionspsychologisch zu sehen, indem man furchtbar interessante Dinge aus der stammesgeschichtlichen Sicht über menschliche Partnerwahl und Sexualverhalten erfährt. Wie immer geht es um die ewige Unsicherheit der Vaterschaft. Stalking gilt mit diesem evolutionspsychologischen Ansatz als „Extremform männlicher Sicherungsstrategie, das Verhalten der Frau zu kontrollieren und antizipierter Untreue zuvorzukommen“. Deshalb sind auch eher jüngere (und damit gebärfähige) Frauen Opfer als ältere.

Restriktive Gesellschaften haben mit Stalking nicht so viele Probleme – ihre Frauen sind sowieso unter Kontrolle. In offenen, westlichen Gesellschaften dagegen wird über Stalking noch viel zu hören und zu reden sein.

Jens Hoffmann, Hans-Georg W. Voß (Hg.): „Psychologie des Stalking“. Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt am Main 2007, 312 Seiten, 24,90 Euro