: Jelzin sucht Konfrontation mit Gorbatschow
■ Rußland soll nach seinem Willen in 100 Tagen autonom sein / Russische Gesetze sollen Vorrang vor Unionsgesetzen haben / Zentralregierung soll nur noch Außen- und Sicherheitspolitik bestimmen / Er will mit Gorbatschow möglichst bald ein Gespräch führen
Moskau (afp/taz) - Die „Souveränität der Russischen Föderation im weitesten Sinne des Wortes“ ist das erklärte Ziel des sowjetischen Radikalreformers Boris Jelzin, der am Dienstag zum Vorsitzenden des Obersten Sowjet dieser Republik gewählt worden war. Auf seiner ersten Pressekonferenz nach der Wahl erklärte Jelzin am Mittwoch, daß Rußland innerhalb von hundert Tagen „in allem autonom“ sein werde, vorausgesetzt „wir widerstehen dem Diktat des Zentrums und sind bis dahin nicht von ihm mit allen Mitteln geschlagen worden“. Gestern vertrat er vor dem russischen Obersten Sowjet, wo er von mehreren Abgeordneten wegen seiner Vorstellungen heftig kritisiert wurde, die Ansicht, in einem Gespräch mit Gorbatschwo nach dessen Rückkehr vom Gipfel ließen sich „die meisten Fragen aus dem Weg räumen“.
In 100 Tagen, so hatte Jelzin am MIttwochabend seine Vorhaben skizziert, sollten die russischen Abgeordneten eine Unabhängigkeitserklärung sowie die „wesentlichen Grundsätze“ dieser Souveränität und eine Reihe von Gesetzen verabschiedet haben. „Die russischen Gesetze müssen Vorrang vor denen der Union haben, und die russische Verfassung muß vor der der Union verabschiedet werden“, erklärte Jelzin. Ferner setzte er sich für die Schließung von Abkommen mit den anderen 14 Unionsrepubliken im Rahmen eines veränderten Staatenbundes ein.
Auch mit dem Ausland wolle man direkte Verträge schließen. „Wir müssen das Dogma eines starken Zentrums aufgeben. Je stärker die Republiken sind, umso stärker ist das Zentrum“, fügte Jelzin hinzu, indem er einen alten Satz Gorbatschows umdrehte. Die Kompetenzen der Zentralregierung müßten erheblich beschnitten werden, doch könnte sich die Zentrale weiterhin mit den Fragen der Verteidigung, der Staatssicherheit und anderen strategischen Problemen befassen. Die Union müsse immer an die in der Verfassung verankerte Möglichkeit der Republiken, sich von Moskau loszusagen, denken. Die Russische Föderation sei in dieser Frage aber zu Kompromissen bereit.
Jelzin forderte ferner den Rücktritt der sowjetischen Regierung, deren Wirtschaftsreformprogramm er scharf angriff. Er gestand Unstimmigkeiten zwischen ihm und Gorbatschow ein. Dabei sei es insbesondere um die „Taktik der Perestroika“ gegangen. Nicht einverstanden sei er auch mit der Rolle der kommunistischen Partei gewesen und der Weigerung, das Mehrparteiensystem einzuführen. „Doch die meisten dieser Fragen sind nun geregelt“, erklärte er. Bezüglich des Litauen-Konflikts sagte Jelzin, er habe Staatspräsident Michail Gorbatschow und den litauischen Präsidenten Vytautas Landsbergis in einem Brief aufgefordert, einen Dialog zu eröffnen. Er schlage vor, daß die Baltenrepublik ihre Unabhängigkeitserklärung für die Zeit der Verhandlungen aussetze, während Moskau die über Litauen verhängte Wirtschaftsblockade aufhebe. Verfassungsdebatte
Unterdessen beschloß der Oberste Sowjet der UdSSR in erster Lesung in einem Gesetzentwurf, das Mehrparteiensystem zu installieren. Gleichzeitig ist in dem Entwurf ein Passus enthalten, daß politische Parteien verboten werden können, wenn sie für die Unabhängigkeit einer Republik eintreten. Baltischen Volksfronten und armenische Nationalbewegung würden illegal. Alexander Jakowlew, ein Berater Gorbatschows, hat vorgeschlagen, eine neue föderale Verfassung für die UdSSR zu entwickeln.
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