: Jelzin stärkt Gaidars Stellung
■ Rußlands Präsident ernennt den 35jährigen Wirtschaftsreformer zum amtierenden Regierungschef
Moskau (dpa/taz) — Der russische Präsident Boris Jelzin hat unmittelbar vor seinem ersten Staatsbesuch in den USA (siehe Seite 9) ein deutliches Signal für eine Fortsetzung der radikalen Wirtschaftsreformen gesetzt: Er ernannte seinen Chefreformer Jegor Gaidar zum amtierenden Regierungschef. „Jetzt führt Gaidar die Regierung an, was bedeutet, daß er an der Spitze der Reformen bleibt, und was bedeutet, die Reform geht voran“, sagte Jelzin vor seinem Abflug in die Vereinigten Staaten nach Angaben der Nachrichtenagentur 'Interfax‘.
Unklar blieb zunächst die Tragweite des Schrittes: Jelzins Sprecher sah sich außerstande zu erläutern, ob Gaidar das Amt vorübergehend oder gar nur während Jelzins Abwesenheit übernimmt oder ob Jelzin in Bälde das Amt gänzlich an ihn abgibt. Die vorläufige Interpretation der Nachrichtenagentur 'dpa‘: Jelzin bleibt damit offenbar nominell Amtsinhaber, gibt aber das Tagesgeschäft an seinen bisherigen ersten Stellvertreter ab. Gaidar, der seinen Reformkurs eng mit dem Weltwährungsfonds und der Weltbank abstimmt, wird damit deutlich aufgewertet. In den vergangenen Wochen hatte Jelzin einige Vertreter aus dem militärisch-industriellen Komplex in die Regierungsmannschaft berufen. Russische Medien kommentierten dies als möglichen Anfang vom Ende der Reformen, für die Gaidars Name als Symbol steht.
Gaidar hatte sich in kürzester Zeit vom Redakteur des Parteiblatts 'Prawda‘ zum Hohepriester der Marktwirtschaftslehre gewandelt. Angetreten als Superminister für Wirtschaft und Finanzen, verordnete er der alten Kommandowirtschaft radikale Rezepte: Einsparung der Staatsausgaben, Kontrolle der aufgeblähten Geldmenge, Schluß mit den überbordenden Subventionen für Staatsbetriebe, Rückzug des Staates aus der Wirtschaft.
Volkes Zorn weckte Gaidar, als er zu Beginn des Jahres die Preise um ein Vielfaches erhöhte und die Löhne nur noch für das Lebensnotwendigste reichten. Der 35jährige wird auch im Parlament hart attackiert, deren Abgeordnetenmehrheit für eine weniger radikale Wirtschaftsreform eintritt. So hat ihm Parlamentschef Ruslan Chasbulatow wiederholt vorgeworfen, das Volk für seine Lehrbuchpolitik bluten zu lassen.
Doch der Präsident hält zu seinem Reformökonomen. Jelzin löste Gaidar im Februar als Wirtschaftsminister und Anfang April als Finanzminister ab, um ihn von der Routinearbeit zu entlasten und aus der Schußlinie der Kritiker zu nehmen. Gaidar blieb aber zunächst weiter erster stellvertretender Regierungschef, bis er jetzt in sein neues Amt aufrückte.
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