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Jelzin fiel auf seine Füße

■ Dickes Lob sowjetischer Funktionäre für den neuen stellvertretenden Minister für Bauwesen / Überraschende Ernennung erfolgte nach Unmut in der Bevölkerung über Jelzins Sturz und schlechte Information

Moskau /Berlin (afp/wps/taz) - Der vor rund einer Woche abgesetzte Moskauer Parteichef Boris Jelzin ist nicht so tief gefallen, wie man hätte erwarten können. Nach seiner Ernennung zum Ersten Stellvertretenden Minister für das Bauwesen waren sowjetische Funktionäre am Donnerstag überwiegend des Lobes voll für den geschaßten Parteichef. Jewgenij Primakow, Direktor des einflußreichen Instituts für Weltwirtschaft und Außenhandel, erklärte gegenüber afp, Jelzin sei ein „überaus fähiger Mann“. Die Ernennung in sein neues Amt mit Ministerrang beweise sein „Können auf diesem Gebiet“. Jelzin sei zudem nach wie vor Kandidat ohne Stimmrecht für das Politbüro. Jelzin bringt in der Tat gute Voraussetzungen für seinen neuen Job mit. Er blickt auf eine Karriere im Bauwesen zurück und leitete die Abteilung des Zentralkomitees für Bauwesen, bevor er im Dezember 1985 als Mitstreiter Michael Gorbatschows in das Amt des Ersten Parteisekretärs der sowjetischen Hauptstadt aufrückte. Es scheint jedoch, als sei der Posten des Ersten Stellvertretenden Ministers für das Bauwesen doppelt besetzt: Auf dem Stuhl Jelzins sitzt derzeit zugleich Leonid Bibin. Die Ernennung Jelzins in das neue Amt erscheint daher vielen in Moskau als eine Maßnahme, die es ihm erlaubt, sein Gesicht zu wahren. Ähnliches gilt für Gorbatschow selbst, der ihn auf den Posten als Parteichef berufen hatte. Doch das ostentative Bemühen, Jelzins Qualitäten herauszustreichen, weist zugleich darauf hin, daß es auch darum geht, dem Unmut über die Absetzung Jelzins den Wind aus den Segeln zu nehmen. Viele Moskauer fühlten sich an die Methoden der Selbstbezichtigung aus der Stalinzeit erinnert und befürchteten eine Abkehr vom Kurs der „Umgestaltung“ der sowjetischen Gesellschaft und Rückkehr zu einer konservativeren Linie. In Cafes, bei Dichterlesungen und in öffentlichen Diskussionsrunden, die von bekannten Zeitschriften veranstaltet werden, war das Schicksal Jelzins in den letzten Tagen Diskussionsthema Nummer Eins. Auch an der Universität und an Fachhochschulen soll es zu Veranstaltungen gekommen sein. Kleine Grüppchen verteilten in der U–Bahn Flugblätter. Eine Schauspielerin las von der Bühne herab ihrem Publikum die Leviten und warf den Anwesenden ihre „Passivität“ in der „Jelzin–Affäre“ vor. Die nächsten Aufführungen des Stücks, „Die siebte Heldentat des Herkules“, waren restlos ausverkauft. In den Diskussionsrunden und Gesprächen wurde neben der Art und Weise der Absetzung Jelzins auch die mangelnde Unterrichtung der Öffentlichkeit über die Gründe für die Abberufung kritisiert. Der Bericht Jelzins vor dem ZK–Plenum der Partei am 21. Oktober, mit dem die Absetzung begründet wurde, ist bisher nicht veröffentlicht worden. Rund funkberichten zufolge soll der Text bereits in Moskau kursieren. Jelzin war vor einer Woche in der Prawda der „politischen Unreife“ beschuldigt worden, nachdem er auf dem ZK–Plenum unter anderem Mitglieder des Politbüros kritisiert hatte, sie verzögerten die Umsetzung der „Umgestaltung“. Gorbatschow höchstpersönlich hatte Jelzin am Mittwoch letzter Woche vor einem Plenum des Moskauer Stadtkomitees kritisiert, jedoch zugleich gewisse Anfangserfolge hervorgehoben. Demgegenüber gingen die Mitglieder des Parteikomitees von Moskau wesentlich schärfer mit ihrem Ex–Chef ins Gericht. Da war von „politischem Abenteurertum“, einem „Dolchstoß“ in den Rücken der Partei, ultralinke Erklärungen und Spaltungsversuchen die Rede - Vorwürfe, die einen Ausschluß aus der Partei nach sich ziehen könnten. Vor diesem Hintergrund erscheint es als ein halber Sieg Gorbatschows, daß Jelzin nicht in der Versenkung verschwunden ist.

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