piwik no script img

Jelzin: Vertrauen ist nicht verloren

Rede im Parlament: Mafia und Bürokraten tragen Hauptschuld an ausufernden Preiserhöhungen  ■ Aus Moskau K.-H. Donath

„Die Wurst für hundert Rubel? Das ist doch irgendein Versehen...“, erboste sich Präsident Jelzin jüngst auf seiner Reise durchs reformierende Rußland. Er wollte selbst in Augenschein nehmen, wie das Land die Reformen umsetzt. Viel Erfreuliches begegnete ihm dabei nicht. Das gab er gestern auch in seinem bemerkenswert knappen Rechenschaftsbericht vor dem Parlament zu. Doch die laute Opposition der letzten Tage war — zumindest zunächst — verstummt: Ein ursprünglich geplanter Mißtrauensantrag gegen den machtbewußten Präsidenten fiel flach.

Zum erstenmal seit seiner Perestroika-Karriere hatte sich Volksheld Jelzin während seiner Rundreise auf der anderen Seite der Barrikade gesehen. Ungewohnt für jemanden, dessen Selbstbewußtsein sich aus seiner Volksnähe speiste. Als es um die Wurst ging, zeigte er sein kriminalistisches Geschick. Schuld an der astronomischen Preisforderung war der Direktor des immer noch staatlich organisierten Zwischenhandels „Torg“ und nicht etwa die Fleischfabrik. Diesen Spekulanten müsse man das Handwerk legen, meinte Jelzin, und versprach, etwas zu unternehmen. Jelzin hatte wieder seine alte Form gefunden. Doch die Schwierigkeiten mit dem Zwischenhandel, der die Reform zum Wuchern nutzt, bleibt erhalten, denn darin liegt ein strukturelles Problem verborgen: Solange das produzierende Gewerbe nicht ausreichend herstellt und als Monopolist auftreten kann, wird sich auch am „Platzvorteil“ des Zwischenhandels nichts ändern. Zumal dort noch Direktoren mit Nomenklatura-Vergangenheit sitzen. Um dem Volksgroll die Spitze zu nehmen, versprach er in Brjansk der Betriebsbelegschaft, auf eigene Rechnung einige Flugzeuge verkaufen zu dürfen, in Petersburg pfuschte er dem Bürgermeister ins Handwerk und stutzte den Taxitarif um die Hälfte. So wollten es die unzufriedenen Taxisten, denen die Kundschaft davonlief. In der Stadt an der Newa, ergaben Umfragen, sank Jelzins Popularität auf 40 Prozent. Der rechtsradikale Scharlatan Schirinowski schnitt mit beachtlichen 20 Prozent gut ab.

Unterdessen hatten in Moskau Jelzins Widersacher um den Vorsitzenden des russischen Obersten Sowjets, Ruslan Chasbulatow, gegen ihn gearbeitet. Doch während der gestrigen Parlamentssitzung hielt Jelzin sie in Schach. „Die Leute haben im allgemeinen Hoffnung und Vertrauen noch nicht verloren,“ zog er das Fazit aus seiner Reise. Schmerzlos ließen sich Preiserhöhungen eben nicht durchziehen. Er machte vor allem die mafiotischen Kräfte für die ausufernden Preiserhöhungen verantwortlich. Sabotage witterte er bei den im Amt verbliebenen „konservativen Bürokraten“. „Die Marktwirtschaft wird unter schwierigen Bedingungen geschaffen... dem Widerstand mafiaähnlicher Strukturen, die versuchen, ihre Vorherrschaft über die Verteilung zu erhalten, offener Sabotage und ideologischer Opposition.“ Verantwortlichen auf lokaler Ebene, die sich der Privatisierung widersetzten, drohte er an, sie in den nächsten Tagen durch einen Erlaß zur Rechenschaft zu ziehen.

Viele Deputierte und andere maßgebende Politiker verfielen in den letzten Tagen in die Gewohnheit, öffentlich einen Katastrophenzustand heraufzubeschwören. Jelzin richtete einen Appell zu Einigkeit ans Parlament: „Ich möchte wiederholen, daß die Reformen noch nicht irreversibel sind. Was wir jetzt brauchen, ist wirkliche Unterstützung, gegenseitiges Vertrauen und gemeinsames Handeln.“ Nach seiner Rede mußte er mit zartem Applaus vorliebnehmen. Der russische Vizepremier Jegor Gaidar, federführend bei der Reformkonzeption, versteifte sich auf den gleichen Appell. „Die ernsteste Bedrohung ist die Bedrohung durch Panik“, sagte er, um sich von Chasbulatow belehren zu lassen, daß in dem Wort „Panik“ keine „ökonomische Bedeutung“ stecke. Gaidar versicherte, die Entwicklungen knapp zehn Tage nach Reformbeginn zeitigten keine unerwarteten Folgen. „Keiner konnte nach drei oder vier Tagen erwarten, daß eine Warenschwemme die Regale füllte“, meinte er zur Verteidigung seines ambitiösen Programms.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen