Jahrestag der Hafen-Explosion im Libanon: Und wenn nun der Krieg kommt?
Vier Jahre nach der Katastrophe in Beirut protestieren viele gegen das korrupte System. Sie fürchten: Gegen Israel kann es sie nicht beschützen.
Beirut |
Dort explodierten am 4. August 2020 falsch gelagerte Säcke Ammoniumnitrat. 2.750 Tonnen, so gab es die damalige Regierung an, gingen nach einem Brand im Warenhaus 12 in die Luft. Es war eine der größten nichtnuklearen Explosionen der Geschichte. Besonders fatal: Die nahe gelegene Feuerwehrwache wurde gerufen, um den Brand zu löschen – 10 Feuerwehrleute rannten in den sicheren Tod. Die Behörden hatten sie nicht über das Explosionspotential informiert.
Jedes Jahr leiten die Familien der Opfer vor dem Hafen einen Gedenkmarsch. Kurz vor 18 Uhr lesen sie die Namen der Opfer vor, dann spielen sie über Lautsprecher eine Aufnahme der Explosion ab, gemischt mit Aufnahmen von Kirchenglocken und dem muslimischen Gebetsruf.
„Das Volk schützt die Gerechtigkeit“ steht auf einem großen Banner, das der 25-jährige Karim Safieddine hält. Er forscht zu Sozialen Bewegungen und sagt, die Zivilgesellschaft müsse sich organisieren. „Recht wird nicht von einem dysfunktionalen Staat und Regime gesprochen“, erklärt er. „Wir haben ein nicht funktionierendes Regime, das nicht in der Lage ist, die grundlegenden Rechte und Bedürfnisse der Bürger zu erfüllen. Oder uns in einem Krieg zu schützen.“
„Korruption größer als der Staat“
In den Tagen nach der Explosion gab der damalige Regierungschef Hassan Diab zu, dass die Explosion das Ergebnis der endemischen politischen Korruption war und das „System der Korruption größer ist als der Staat“.
Die Unfähigkeit des Staates zeigt sich schon in den Zahlen: Während das Gesundheitsministerium rund 191 Tote auflistet, zählen unabhängige Journalist*innen mehr als 250. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zählte 218 Tote, rund 7.000 Verletzte und 150 Menschen mit bleibenden Behinderungen. Unermesslich sind der psychologische Schaden und das kollektive Trauma, welche die Explosion verursacht hat.
Fünf Tage hatte Diab damals versprochen, werde die Aufklärung dauern. Doch bis heute ist niemand vor Gericht gestellt worden. Diab selbst wurde vom zuständigen Untersuchungsrichter, Tarek Bitar, des vorsätzlichen Mordes bezichtigt und vorgeladen. Ebenso drei Ex-Minister und andere Spitzenbeamte wie der Staatsanwalt des Landes und der Leiter des Inlandsgeheimdienstes.
Doch Politiker behindern den Richter, der die Landesführung zur Explosion befragen und juristisch belangen möchte. Hauptsächlich die schiitische, von Iran unterstützte Partei und Miliz Hisbollah, sowie ihre Verbündete, die Partei Amal, der Justizminister und der Generalstaatsanwalt. Sie haben mehr als 25 Anträge auf Absetzung des Richters Bitar gestellt. 2023 wies Staatsanwalt Ghassan Oueidat die Sicherheitsdienste an, Bitars Anweisungen zur Ausstellung von Haftbefehlen zu ignorieren.
Systematische Straffreiheit für die Machthabenden
Es ist nicht der erste Fall, in dem Tätern systematisch Straffreiheit gewährt wird. Das libanesische Justizsystem ist genauso von Korruption und Klientelismus zerfressen, wie die Politik. Vor allem die Hisbollah kann so politische Morde nutzen, um ihre Macht zu festigen und ihren politischen Willen zu manifestieren. Opfer der politischen Morde waren Politiker, Diplomaten, Journalisten, Aktivisten, Richter, religiöse Führer und Militäroffiziere.
Das bekannteste Beispiel dafür ist der Bombenanschlag auf den damaligen Ministerpräsidenten Rafik al-Hariri im Jahr 2005. Mehr als 15 Jahre brauchte es, bis ein UN-Sondertribunal für den Libanon das Urteil gefällt, und ein Hisbollah-Mitglied als Mittäter schuldig gesprochen hat. Für eine direkte Täterschaft der Hisbollah oder des Nachbarlandes Syrien gab es keinen Beleg.
Rechenschaftspflicht fehlt auch für den Intellektuellen Lokman Slim. Der Schriftsteller und Verleger war ein bekannter Hisbollah-Kritiker. Nach der Explosion hat er im Fernsehen gesagt, das Ammoniumnitrat sei für den Einsatz von Fassbomben in Syrien bestimmt gewesen. Die Hisbollah kämpft als Verbündete im syrischen Krieg an Seite des Machthabers Baschar al-Assad. Slim erhielt Todesdrohungen.
Er verfasste eine Erklärung, in der er die Partei für jede Aktion verantwortlich machte, die ihm oder seiner Familie schaden könnte. Am 3. Februar 2021 wurde er erschossen in einem Auto gefunden, im Südlibanon, den die Hisbollah kontrolliert. „In allem, was wir gemacht haben, stand dieser Kampf gegen die Kultur der Straflosigkeit im Mittelpunkt“, sagte seine Frau Monika Borgmann-Slim der taz damals.
Seit November 2022 fehlt ein Präsident im Libanon
2019 wehrten sich die Menschen gegen Korruption und Klientelismus, die in allen libanesischen Parteien gang und gäbe sind. Zu hunderttausenden protestierten sie im ganzen Land. Doch die alten Köpfe blieben und die libanesische Währung schnurrte in einer auf die Proteste folgenden Hyperinflation auf einen Bruchteil ihres vorherigen Wertes zusammen. Dann kam die Explosion am Hafen, die Menschen gingen wieder auf die Straße, forderten den Rücktritt aller führender Politiker und Aufklärung.
Im Mai 2022 schafften es 13 unabhängige Abgeordnete als Alternative zur alten politischen Klasse ins Parlament. Doch ein Dutzend Politiker bringt keinen politischen Umschwung. Weil sich die Parteien nicht einigen, stockt die Regierungsbildung seit mehr als zwei Jahren, die Regierung ist nur übergangsweise im Amt. Seit November 2022 fehlt auch ein Präsident. Die Neuwahl scheitert ebenfalls an politischen Machtkämpfen. Das Parlament tritt nur sporadisch zusammen.
Auf die nächste Tragödie wartend
Die Alltagssorgen durch die Wirtschaftskrise und die Ausweglosigkeit haben die Menschen mürbe gemacht. Nun ist das Land im Krieg – und die Übergangsregierung machtlos. Der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah im Südlibanon droht sich vor dem Hintergrund des Gazakriegs auf den Rest des Landes auszuweiten. Die Dokumentarfilmerin Lama al-Arian beschreibt auf X das Gefühl der ganzen Nation: „Die Menschen hier betrauern die eine Tragödie, während sie ängstlich auf die nächste warten.“
William Noun, der Bruder von Joe Noun, einem der getöteten Feuerwehrmänner, machte in einer Rede den Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah mitverantwortlich für die Lage des Landes. „Wir stehen an der Seite der Märtyrer des Südlibanon, auch wenn sie Mitglieder der Hisbollah sind, aber warum stehen sie nicht an der Seite unserer Märtyrer?“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung