Jahresbericht von Amnesty International: Der Horror ist überall
Russlands Angriffskrieg in der Ukraine ist „nur die Spitze eines Eisbergs“, sagt die Organisation. Dass Putin straflos morden könne, ermutige andere.
Die russischen Gräueltaten in der Ukraine stehen aktuell im Fokus der Aufmerksamkeit. Amnesty aber beobachtete im vergangenen Jahr eine Vielzahl von Staaten und bewaffneten Gruppen auf der Welt, die das Völkerrecht verletzen, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. „Der russische Angriff ist nur die Spitze eines Eisberges fehlender Durchsetzung der internationanlen Ordnung“, sagt Beeko.
Im Bürgerkrieg in der äthiopischen Provinz Tigray etwa seien beiden Seiten – also Äthiopiens Regierungsarmee und der Tigray-Volksbefreiungsfront – Massaker und „schlimmste Formen geschlechtsspezifischer Gewalt“ anzulasten, so Amnesty. Die Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf solche Verbrechen sei unzureichend und zögerlich. Die völkerrechtliche Rechenschaftspflicht bleibe auf der Strecke, multilaterale Institutionen würden geschwächt, sagte Beeko.
Markus Beeko, Amnesty Deutschland
Bedeutet das, dass Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine verhindert worden wäre, wenn die internationale Gemeinschaft in anderen Konflikten früher und härter durchgegriffen hätte? Trifft sie deshalb gar eine Mitschuld an Putins Handeln?
So weit wollte Beeko auf Nachfrage nicht gehen. Es sei unerlässlich, dass die Staatengemeinschaft Kriegsverbrechen benenne und ahnde, sagt er. „Das ist in der Vergangenheit nicht geschehen, nicht in Jemen, nicht in Syrien und Myanmar.“
Forderung nach Konsequenzen
Das gelte auch für Putin. Der habe in Grosny und Syrien die Erfahrung gemacht, dass sein Handeln keine Reaktionen nach sich zog. Die internationale Gemeinschaft habe nicht verstanden, dass ein Tolerieren solchen Handelns nur zu weiteren Verstößen ermutige. „Für die Zukunft wird es wichtig sein, das zu tun, um Russland, Saudi-Arabien und anderen Staaten ein klares Signal zu senden“, so Beeko. Das Mittel dafür sei die Stützung internationaler Sanktionsregime. „Jede Verletzung der internationalen Ordnung muss Konsequenzen haben.“
Auch die Verletzung der Rechte von Geflüchteten zählt zu den großen Trends, die Amnesty im vergangenen Jahr beobachtete. Illegale Zurückweisungen an Grenzen, sogenannte Pushbacks, hätten stark zugenommen. Zwar werde Ukrainer:innen in Europa heute Zuflucht gewährt, doch dürften darüber die Opfer anderer Krisen nicht vergessen werden, sagte Beeko.
Der bewaffnete Konflikt in der Demokratischen Republik Kongo etwa habe 1,5 Millionen Menschen zusätzlich gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Aus Venezuela etwa seien gar 6 Millionen Menschen geflüchtet – nach Syrien die größte Fluchtbewegung der Welt.
Viele der heute Flüchtenden seien mit Abschottung und gewaltsamen, illegalen Zurückweisungen konfrontiert, sagte Beeko. Amnesty habe 154 Länder der Erde auf entsprechende Praktiken untersucht und in 48 Staaten Missachtung der Flüchtlingsrechte und die illegale Zurückweisung von Flüchtenden festgestellt. „Auch an den EU-Außengrenzen wird Menschen mit Gewalt der Zugang zu einem Asylverfahren verweigert“, sagte Beeko. Polen habe die Pushbacks gesetzlich verankert und über 40.000 Menschen zurück über die Grenze nach Belarus getrieben.
Repressionen in Coronazeiten
Stark unter Druck geraten die Menschenrechte auch durch das Schrumpfen des Freiraums für die Zivilgesellschaft. „Die Unterdrückung kritischer Stimmen nahm zu“, sagt Beeko über das zurückliegende Jahr. Die Handlungsräume von Journalist:innen, Anwält:innen, NGOs und Oppositionellen werden kleiner. Die Coronapandemie habe diesen Trend verschärft: Repression sei vielfach „unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung“ erfolgt.
Überhaupt habe die Pandemie die Menschenrechte unter Druck gesetzt. Wer den vollmundigen Versprechungen auf ein ‚Build Back Better‘ und auf einen Neustart der Beziehungen zwischen dem Globalen Süden und dem Norden vertraut und auf Investitionen und Technologietransfers gehofft habe, sei „bitter enttäuscht worden“. Der angekündigte Schuldenerlass für arme Länder führe faktisch nur zu einer Entlastung von insgesamt etwa 10 Milliarden Dollar für etwa 40 Länder.
Amnesty fordert die Bundesregierung auf, sich für eine Aufhebung des Patentschutzes von Corona-Impfstoffen einzusetzen. Deutschland ist einer der wenigen Staaten weltweit, die einen entsprechenden Antrag von Ländern wie Südafrika und Indien bei der Welthandelsorganisation WTO blockieren.
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