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Ja, es ist kalt geworden

Freitag mittag. Ich komme gerade vom Einkauf und habe schwer zu tragen an all den Sachen, die man für's Wochenende so braucht. Jetzt will ich an den Hauptbahnhof, nochmal nach ein paar Blumen sehen. Dort ist es wie immer. Vietnamesen, die ihre Zigaretten anbieten, heruntergekommene Gestalten mit der Bierflasche in der Hand und eine Bettlerin mit Kind, laut Pappschild aus Jugoslawien, Mann tot. Ich gehe schnell in gebührender Entfernung vorbei und weiche dem Blick der Bettlerin aus. Bei der alten Frau, die jeden Freitag hier steht und Blumen aus ihrem Garten verkauft, suche ich mir einen kleinen Strauß Winterastern aus.

Ja, es ist kalt geworden, Winterastern sind das einzige, was jetzt noch wächst. Fünf Meter neben mir fliegt der Pantoffel der Bettlerin durch die Luft. Zwei, denen man ansieht, wie sie denken, gehen lachend über ihren Spaß vorbei. Die anderen auch, verstohlen grinsend. In mir zieht sich alles zusammen. Die Bettlerin holt ihren Pantoffel wieder und lächelt verlegen. Ich suche mein letztes Kleingeld zusammen und gebe es ihr. Sie bedankt sich bei mir. Ich schäme mich und gehe nach Hause. Sebastian Kranich, Leipzig

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