J.D. Vance nicht mehr bei Ullstein: Kein Skandal, nirgends
Der Verleger von J. D. Vances „Hillbilly-Elegie“, der Ullstein-Verlag, gibt die Lizenz für das Buch ab. Einige fürchten Zensur – wie übertrieben!
E s ist ein alltäglicher Vorgang im Verlagsgeschäft: Ein Buch ist ausverkauft, der Verlag entschließt sich gegen einen Nachdruck und gibt dem:r Autor:in die Rechte an dem Titel zurück. Das ist bedauerlich, weil dies zumeist bedeutet, dass das Buch für lange Zeit nicht mehr lieferbar ist, wenn es denn überhaupt noch einmal nachgedruckt wird.
Um den Ruf von Autor und Verlag zu schützen, findet ein solcher Vorgang in der Regel nicht vor den Augen der Öffentlichkeit statt. Vor wenigen Tagen ist dergleichen wieder geschehen, diesmal jedoch ist der Vorgang zum Medienthema, ja sogar zum Politikum geworden. Und das, obwohl daran rein gar nichts skandalös ist.
Es geht um die deutsche Übersetzung des Buches „Hillbilly Elegy“ von J. D. Vance, den Donald Trump jüngst zu seinem Running Mate erkoren hat. Das bedeutet, dass Vance im Falle eines Wahlsieges von Trump sein Vizepräsident werden würde. Der Untertitel der deutschen Übersetzung, „Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise“ zeigt, worum es geht.
Vom Paulus zum Saulus
Es ist ein allseits gelobtes Buch über das Leben der verarmten amerikanischen Mittelschicht. Das Buch erschien 2017, ein Jahr nach der amerikanischen Originalausgabe, im Ullstein Verlag. Es verkaufte sich anfangs außerordentlich gut, in den letzten Jahren weniger, nun ist es beim Verlag ausverkauft.
Ullstein entschied sich gegen einen Nachdruck und gab die Lizenz zurück. Auf Nachfrage teilte der Verlag mit, man habe so entschieden, da man mit dem heutigen Auftreten von Vance nicht einverstanden sei. In der Tat hat sich Vance vom Paulus zum Saulus entwickelt, vom einstigen Verteidiger von Einwanderer:innen zum aggressiven Demagogen und Befürworter der Trump’schen Rassismen und Sexismen.
Bereits angekündigt ist allerdings eine Neuausgabe der deutschen Fassung des Vance-Buches im Yes Verlag, die bereits Ende Juli erscheinen soll. Der Yes Verlag ist ein konzernunabhängiger Verlag, sein Programm wird allerdings von der Münchner Verlagsgruppe vertrieben, die wie Ullstein Teil des Bonnier-Konzerns ist. Für die weite Verbreitung der Neuausgabe wird also gesorgt sein. Dass sie erneut zum Bestseller werden wird, steht außer Frage.
Reißerische Titel
Wo genau ist also ein Problem? Das Problem ist: Viele Journalist:innen wie Social-Media-Powerposter:innen wittern einen Skandal, raunen von „Zensur“, sehen Vance gecancelt. Aber ist dem so? Ullstein will das Buch nicht mehr machen, Yes sagt Ja. Niemand wird also sterben müssen, ohne Vances Buch kaufen zu können.
„Ullstein-Verlag wirft Buch von J. D. Vance aus dem Programm“ titelt etwa reißerisch Spiegel online. Könnte es jedoch einen angenehmeren Rauswurf für Vance geben? Vermutlich nicht.
Dass Ullstein auf viel Gewinn verzichtet und sich nicht einfach blind jeder Marktlogik unterwirft, kann man auch bemerkenswert finden. Doch die vermeintlichen Verteidiger:innen der Freiheit, die „die Woken“ für gefährlicher halten als tätliche Angriffe auf Menschen, müssen so sehr ihrer Mär von der Cancel Culture nachhängen, dass sie sogar – welche Ironie! – die unternehmerische Freiheit des Ullstein Verlages beschränken wollen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz