: „Italien im Fernsehen kann ich nicht ertragen“
■ Viele tausend alte Frauen leben mit wenigen hundert Mark im Monat / Sie fürchten jede Preiserhöhung und können von den Freuden des Lebens nur träumen
Wie überlebt man mit 860Mark im Monat? Was für viele Menschen unvorstellbar ist, ist für Anneliese G. (64) harte Realität - und für viele tausend alte Menschen in der Stadt ebenfalls. Frau G. wohnt in einer Sozialwohnung in Kreuzberg. Sie ist Rentnerin wie die meisten Frauen in ihrem Haus, einem verwaschenen Neubau nahe der Mauer. Ein Viertel ihrer Rente geht für ihre 28qm große Ein-Zimmer-Wohnung ab, weitere 70Mark bezahlt sie monatlich nur für Elektrizität. Nach Abzug der Grundkosten wie Miete, Strom, Telefon und BVG bleiben Anneliese G. jeden Monat nur 400Mark zum Lebensunterhalt.
Da heißt es, möglichst billige Lebensmittel zu kaufen. Doch meistens kann sich die rheumakranke Annliese G. nicht mal die verbilligte BVG-Monatskarte leisten, um auch mal Sonderangebote in einem weiter entfernten Supermarkt zu holen. Bei den nahegelegenen Lebensmittelgeschäften tragen ihr manchmal wenigstens die Punks die Einkaufstasche nach Hause. Da sie seit einigen Jahren Diabetes hat, muß sie 100Mark mehr im Monat für Lebensmittel ausgeben. Ökologisch bewußt mit biologisch-dynamischen Lebensmitteln würde sie auch gerne leben, zumal sie wie viele in ihrem Alter schon schwere Operationen hinter sich hat. Die hohen Preise der Bioläden sind für sie jedoch nicht bezahlbar.
All die Dinge, die dem Leben Inhalt geben, sind unerschwinglich. In ihren Hobbies muß sich Frau G. stark beschränken. Früher, so erzählt sie, sammelte sie Briefmarken und fotografierte, doch seit sie vor zehn Jahren auf Frührente gegangen ist, hat sie dafür kein Geld mehr. Bücher kann sie sich nicht leisten, nur Taschenbuchkrimis, die sie wieder in Zahlung geben kann, und die ihr oft über schlaflose Nächte hinweghelfen. Schwimmen ginge sie auch gerne, nur gewähren die Schwimmbäder keine Ermäßigung für RentnerInnen. Außerdem käme noch die Hin- und Rückfahrt mit der BVG hinzu - ein zusätzlicher Schlag in den Geldbeutel. Aus dem gleichen Grund gehören Kino- und Theaterbesuche zum unerreichbaren Luxus für Frau G. und ihre Nachbarinnen.
Viele dieser älteren Frauen, so hat Frau G. beobachtet, hätten im Kampf mit den täglichen Ausgaben längst resigniert. „Sobald es Rente vom Briefträger gibt, geht es schon morgens ab in die Kneipe“, weiß Frau G. Die ewigen Geldsorgen, aber auch die Einsamkeit seien die Gründe. Für Anneliese G. gibt es „in dieser Gesellschaft keine Zärtlichkeiten, keiner interessiert sich für den anderen, nur Geld, Geschäft und Auto zählen“. Manchmal fühlt sich Frau G. „totunglücklich“. Sie vermißt „ein liebes Wort, ein gutes Gespräch“.
An gesundheitlich schlechten Tagen „spielt sich das Leben immer auf 28qm ab, vom Bett zur Balkonliege und wieder zurück“. Ausgehen will sie im Winter ohnehin nicht, zudem ist die Gegend unsicher geworden. „Wir hatten hier ein paar Vergewaltigungen letzten Winter, hier in die Wohnung kommt mir keiner ohne Voranmeldung rein.“ Erst vor wenigen Jahren wurde ihre gleichaltrige Freundin in Reinickendorf ermordet.
Frau G. will sich jedoch nicht von der Angst unterkriegen lassen. Wann immer es ihre finanzielle Lage erlaubt, fährt sie zu Vorträgen in die Urania, versucht, über Umweltprobleme und Politik mehr zu erfahren. Umso mehr bedrückt es sie, daß „ich die paar Jahre, wo ich mich noch politisch engagieren könnte, versäume, nur weil mir die finanziellen Mittel fehlen“. Enttäuscht ist sie deswegen von der AL, die seit der Regierungsbeteiligung nicht mehr von der „Mindestrente von 1.000Mark spricht“.
Frau G. hat seit Jahren keine Reise mehr gemacht, weil ihr selbst das Geld für eine Fahrt nach Westdeutschland fehlt. „Wenn was über Italien im Fernsehen kommt, stelle ich immer aus, weil ich's nicht ertragen kann.“ Selbst ein Ausflug nach Tegel oder in den Grunewald ist nicht oft möglich. Es sei ihr unangenehm, „immer mit der Stulle durch die Gegend zu rennen, ich möchte doch auch mal ein Kännchen Kaffee trinken und Kuchen essen, während ich auf den See hinaus sehe“.
War in den letzten Jahren mal ein strengerer Winter dabei, wartete Anneliese G. Monate später unruhig auf ihre Heizkostenabrechnung. Da die Wohnung zur Hälfte von Außenwänden umgeben ist, waren Nachzahlungen von 400Mark in den vergangenen Jahren keine Seltenheit. Einmal suchte sie deswegen das Sozialamt auf, wo ihr ein Sachbearbeiter vorwarf, daß sie nicht haushalten könne. Schließlich könne sie ja für solche Fälle monatlich einen Betrag zurücklegen.
Ebenso wird eine anstehende Renovierung zum schier unlösbaren Problem, wenn nicht Bekannte da sind, die die Möbel umstellen und den Pinsel schwingen. Für die Tapeten mußte sie wieder zum Sozialamt gehen, was sie jedesmal große Überwindung kostet. Einmal habe ein Mann vor ihr randaliert, um Geld für Schuhe zu bekommen. Die entnervte Sachbearbeiterin ließ ihn von der Polizei abführen. „Der nächste wird dann gleich mitangebrüllt“, erzählt Frau G., die sich bei diesem Vorfall vor Angst so aufgeregt hatte, daß sie mit dem Taxi nach Hause gebracht werden mußte.
Angst sei für viele das Motiv, den Ämtern fernzubleiben. Auch ihre Freundin traut sich trotz der geringen Rente nicht, Wohngeldzuschuß zu beantragen. Eine Nachbarin, die 76Jahre alt ist, fand zwar den Mut, sei aber nach der ganzen Ämterrennerei völlig fertig gewesen. Doch ohne Anträge läuft in der Bundesrepublik nichts. Jede soziale Leistung muß beantragt werden. „Doch was“, fragt Anneliese G., „wenn sich jemand nicht meldet, weil er vielleicht fünf Jahre älter ist und sich nicht rühren kann oder nicht weiß, wo er hingehen soll?“
Vor kurzem hörte Frau G., daß die Abgaben für Elektrizität und Wasser erhöht werden sollen. Die Nachricht traf sie wie ein Schock: „Das mit dem Wasser hat mich einfach umgehauen, Wasser ist doch das Grundelement. Bei Gold oder einem Mercedes könnte ich es noch verstehen. Aber muß ich mir jetzt, wenn ich eine Tablette nehme, erst das Glas Wasser anschauen, ob ich es mir auch leisten kann?“ sorgt sich Frau G.
Nächstes Jahr, wenn sie 65Jahre alt ist, soll sie für ihre Tochter, die sie alleine großgezogen hat, 27Mark mehr pro Monat bekommen. Freuen kann sie sich darüber nicht, weil sie Angst hat, daß es ihr vielleicht dann doch wieder bei anderen Sozialleistungen abgezogen wird.
Karin Figge
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