: Italien erlebt derzeit nicht nur den Zerfall des Sozialismus; seit der Demontage von PSI-Chef Craxi und den täglich neuen Hiobsbotschaften über Bestechungsskandale erlebt das Land immer stärker auch den Zerfall Italiens. Die PSI, in allen Glie- derungen mit Ermittlungsverfahren überzogen, befindet sich in einem irreversiblen Auflösungsprozeß. Aus Rom Werner Raith
Garibaldis Lebenswerk vor dem Zerfall
Ach, welch gigantisches Fest hätte es werden sollen, mit den diesmal noch größeren, noch teureren Bauten des Star-Architekten Panseca und einem Honoratiorenpodium von Vittorio Gassman bis zu Luciano Pavarotti. Und alle hätten den hundertsten Geburtstag des Partito socialista italiano (PSI) preisen sollen. „Der Sozialismus, das bin ich“, hatte Craxi schon im Vorfeld getönt und damit allen, die da auch noch mitfeiern wollten – etwa die ebenfalls aus der Sozialistischen Bewegung hervorgegangenen Kommunisten – die Initiative abgenommen.
Doch aus dem Trällern und Jubilieren wurde nichts, und der Partito socialista italiano, derzeit in allen Parteigliederungen mit Hunderten von Ermittlungsverfahren überzogen, steht vor einem fast schon irreversiblen Auflösungsprozeß, trotz des soeben an die Spitze gewählten liebenswürdigen Gewerkschafters Giorgio Benvenuto und des durchaus passabel erscheinenden Ministerpräsidenten Giuliano Amato.
Die Gefahr für den PSI besteht nicht nur in möglichen langen Haftstrafen für faktisch alle bisherigen Führungsfiguren. Und sie besteht auch nicht nur darin, daß es kaum mehr jemanden gibt, der innerparteilich mehrheitsfähig ist und dem man keine Verwicklung in Skandale zutraut. Das Problem ist, daß selbst bei intensivstem Nachdenken „niemandem mehr einfällt, womit man denn nach einem solchen Totalabsturz das Wort Sozialismus noch anpreisen könnte“, so der einstige PSI-Vordenker Norberto Bobbio.
Schmiergeld bei jedem öffentlichen Auftrag
Italiens Bürger sind zum ersten Mal buchstäblich sprachlos. Das Land erlebt derzeit die schwerste Krise seit Kriegsende, eine atemberaubende Talfahrt der Produktion. Es hört täglich von neuen Rückstufungen innerhalb der großen Wirtschaftsnationen der Welt und sieht den Ausfall aller Dienstleistungssektoren vom Gesundheitswesen bis zum öffentlichen Verkehr. Und ausgerechnet da bricht ihnen nun die Regierungspartei weg, die sie bisher noch für die kompakteste, entscheidungsfähigste politische Kraft gehalten hatten. Theorien, es handle sich bei den Ermittlungsverfahren nur um ein Komplott gegen Craxi und seine Riege, ließen sich nicht halten: Ganz offenkundig sahen sich die Unternehmer am Ende, wenn sie bei jedem öffentlichen Auftrag fünf Prozent Schmiergelder bezahlen mußten.
Doch verwirrt ist das Volk nicht nur durch den PSI-Absturz, sondern mindestens ebenso durch das Verhalten der anderen Regierungspartner – auch der Opposition. Die Christdemokraten, seit Abschaffung der Monarchie 1946 an allen Regierungen beteiligt und stets wählerstärkste Partei des Landes (bei den letzten Parlamentswahlen im vergangenen April erreichten sie immerhin noch knapp 30 Prozent), machen nicht die geringsten Anstalten, den Sessel des Regierungschefs zurückzuverlangen; der neue Parteichef Martinazzoli betrachtet jeden Tag, an dem die derzeitigen Hiobsbotschaften an die Nation mit einem Sozialisten assoziiert werden, als einen Segen für seine DC; wobei dann auch die Ermittlungsverfahren, die gegen Mitglieder der DC laufen, mehr im Hintergrund bleiben.
Die Opposition ihrerseits ist völlig uneinig. Die kleineren Parteien, von der Antikorruptionsgruppe „la Rete“ bis zum Linksabspalter des ehemaligen PCI, „Rifondazione comunista“, den Neofaschisten und den oberitalienischen separatistischen „Ligen“, verlangen Neuwahlen. Doch der mit 17Prozent größte Oppositionsblock „Partito democratico della sinistra“ will lieber in eine große Koalition mit der DC und einem von Altlasten gereinigten PSI eintreten – einzige Voraussetzung dafür, daß die Ministerrunde dann ausschließlich aus Leuten besteht, die bisher keine Regierungsverantwortung getragen haben, also nicht in den alten Filz verwickelt sein können, am liebsten parteiunabhängige Fachleute („tecnici“).
Doch auch dieses ins Auge gefaßte neue Fundament hat Risse bekommen: es scheint nämlich auch nicht mehr so leicht, unbelastete „tecnici“ zu bekommen. Wo immer einer sich als Experte oder Manager, als erfolgreicher Bankier oder als wissenschaftlicher Berater hervortat, nahezu immer ist festzustellen, daß er in dieser Eigenschaft entweder Bestechungsgelder ausgeteilt oder eingeheimst hat. Letzter Schlag: Zwei Manager aus dem Fiat-Konzern, beide sogar als Kandidaten für Staatssekretärsposten gehandelt, wurden am Montag wegen Bestechungsverdachts verhaftet. Hinter Gittern gelandet sind mittlerweile auch nahezu alle Top- Manager der großen Staatsholdings.
So erlebt Italien nicht nur den Zerfall des Sozialismus – es erlebt seinen eigenen Zerfall. Hatten einst große Ideen und reputierliche Parteien langsam an Bedeutung eingebüßt – wie etwa die liberale Partei in den fünfziger Jahren –, sah man neue handlungsstarke Gruppen an ihre Stelle treten. Doch heute?
Die einzige politische Vereinigung, die einigermaßen geschlossen erscheint, sind die „Ligen“ – und die wollen genau das, was alle anderen Parteien eben nicht wollen, nämlich die Auflösung des italienischen Staates zugunsten einer losen Föderation von mindestens drei Regionen.
Mangels Konkurrenz könnten sie durchaus noch weiter zulegen – in einigen Städten Norditaliens haben sie bereits 40 Prozent und mehr erreicht, in Varese und Como stellen sie nun die Bürgermeister. Schaffen sie die Regierungsbeteiligung, würde wohl bald auch das letzte noch nicht zu Fall gebrachte historische Verdienst, das die Sozialisten als „ihr“ Werk reklamieren, rückgängig gemacht: die Reichseinigung Italiens (1860 bis 1870), das der PSI gerne als alleiniges Werk Giuseppe Garibaldis ausgibt, des Mannes, der als Großvater des italienischen Sozialismus gilt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen