piwik no script img

Ist solches Vergessen zufällig?

■ betr.: "Nicht Gnade, sondern Recsht", Interview mit Prof. Azzola, taz vom 11.10.90

betr.: „Nicht Gnade, sondern Recht“, Interview mit Prof.Azzola, taz vom 11.10.90

Die Deutschen haben's schon schwer. Gerade die Entwicklungen, die ihnen die ersehnte Vereinigung bescherten und die mit dem damit postulierten Ende der Nachkriegszeit auch die endgültige Entsorgung der faschistischen Verbrechen erhoffen ließen, konfrontieren sie nun erst recht mit eben jener endlich für erledigt geglaubten Geschichte des deutschen Faschismus.

Da ist nämlich kein Eiserner Vorhang mehr, der uns gnädig schützt vor den Ansprüchen der Überlebenden und Nachkommen jener Völker, deren vollständige „Vernichtung“ einst deutsches Programm war. Ich spreche von den Juden sowie den Roma und Sinti Osteuropas. Diese fordern für sich nun ausgerechnet das, was dieses Land immer weniger bereit ist zu gewähren, ein Bleiberecht nämlich für Verfolgte, Unterdrückte, Diskriminierte anderer Völker.

Damit treffen uns Juden, Roma und Sinti — wie die ganze Diskussion um Ausländer- und Asylrecht zeigt— an dem gegenwärtig neuralgischten Punkt unseres politischen Selbstverständnisses, und das mit dem ganzen Gewicht ihres Schicksals, einer durch Deutsche erlittenen beispiellosen Verfolgung.

In dieser Situation plädiert Prof.Azzola im Hinblick auf unsere historische Verantwortung für ein Einwanderungsgesetz für das bedrohte und entwurzelte osteuropäische Judentum. Einverstanden. Aber warum werden da die Roma und Sinti Ost- und Südosteuropas „vergessen“? Sind sie weniger bedroht und entwurzelt? Fordern sie nicht unsere historische Verantwortung heraus? Steht den hier bereits eingewanderten Roma nicht sogar schon die unmittelbare Abschiebung bevor, während einwanderungswillige an den Grenzen rüde zurückgewiesen werden?

Den Juden begegnet Antisemitismus auf offizieller Ebene bislang nur indirekt und versteckt. Den Roma und Sinti hingegen — nicht geschützt durch die offizielle „Bewältigung“ der NS-Vergangenheit — schlägt der alte Haß, die gewohnte Diskriminierung oft noch unverhohlen und offen entgegen. Mit der Diktion, mit der beispielsweise letztlich im NRW- Landtag Christdemokraten über Roma und Sinti herfielen, hätten diese Politiker über Juden nie zu sprechen gewagt.

Da mir die Diskriminierung der Roma und Sinti trotz der faschistischen Erfahrung fast ungebrochen scheint, macht mich mißtrauisch, wenn dieses Volk im Zusammenhang eines Plädoyers, das ein durch unsere historische Verantwortung motiviertes Einwanderungsgesetz zum Ziel hat, nicht erwähnt wird. Ist solches „Vergessen“ zufällig, wenn die öffentlichen Diskussionen der letzten Wochen um die „Zigeuner“ hier eine Stellungnahme doch geradezu aufdrängen? Wenn schon, dann eine menschliche Bleiberechtsregelung für Juden und für Roma und Sinti aus den osteuropäischen Ländern! Der Linken stände es gut an, dafür zu streiten. Michael Stoffels, Meerbusch

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen