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Archiv-Artikel

Ist es hierzulande eigentlich anders?

betr.: „Die Mehrheit übt sich in Demut“ (Russland-Wahl), Kommentar von Klaus-Helge Donath, taz vom 9. 12. 03

Der Kommentar wirft viele Fragen auf. Was wurde „in den Jahren des demokratischen Aufbruchs errichtet“? Muss es nicht heißen: zugrunde gerichtet? Warum halten die Russen nicht viel „vom Experiment mit Freiheit, Selbstbestimmung und Rechtsstaat“ und bevorzugen den „Sonderweg“ namens „Obrigkeitsstaat“? Sie „delegieren ihre Interessen an eine Macht, die sich um den Bürger nicht schert.“ Ist es hierzulande eigentlich anders?

„Selbstkritik und Selbstreflexivität kennt die russische Gesellschaft nicht, ebenso wenig einen analytischen Diskurs.“ Wo gibt es den hierzulande und wer führt einen Diskurs solcher Art? Freilich, einen wie auch immer gearteten „Gerechtigkeitssinn“ gibt es in der deutschen Politik längst nicht mehr. Damit Wähler zu ködern, wie es Putin tat, hieße ja geradezu, die Politik beruhe auf einer – tatsächlich gar nicht bestehenden – Abhängigkeit vom Stimmvieh. Einem Schröder hätte sich solcher Zynismus sicher verboten.

Fragt sich also, was ist die Essenz einer derartigen Kritik, wie sie der taz-Autor vorträgt? Putin kümmert sich um Demokratie, Rechtsstaat, Stabilität, außenpolitische Berechenbarkeit usw. Soweit wäre das alles nicht verkehrt, wäre es nur zu dem Zweck, sich den gestellten Ansprüchen der westlichen Mächte zu unterwerfen. Indem Putin seine Macht konsolidiert und Russland zu stabilisieren versucht, macht er das jedoch aus ureigenen russischen Machtinteressen heraus und somit auch ein ganzes Stück gegen imperialistische Ansprüche. Das eben passt den Westmächten nicht. Dass die taz mit ihrem Kommentar die tiefsten Gefühle deutscher Politik und ihrer Öffentlichkeit widerspiegelt, ist ein Armutszeugnis für ein sich als irgendwie links & kritisch verstehendes Blatt. Russland, von seinen verarmten Bewohnern ganz zu schweigen, wird der Kommentar nämlich in keinster Weise gerecht. WOLFGANG RICHTER, Augsburg

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