Ist Synanon geldgierig?

Ehemaliges Mitglied von Synanon forderte vom Drogenhilfeprojekt vergebens 15.000 Mark zurück / Der Zivilrichter zu den Synanon-Vertretern: „Sie sind sehr hart“  ■ Von Plutonia Plarre

Hart und unversöhnlich standen die Vertreter der Suchthilfeeinrichtung Synanon ihrem ehemaligen Wohngenossen vor dem Zivilgericht gegenüber. Der 50jährige Amerikaner Richard X.* hatte die Organisation auf Zahlung von 15.000 Mark verklagt. Genauer gesagt, forderte Richard X. sein Schmerzensgeld zurück, das er nach einem Fahrradunfall von dem schuldigen Autofahrer erstritten hatte. Weil Mitglieder von Synanon jedoch kein Privatvermögen haben dürfen, hatte er die gesamte Summe an das Projekt abgetreten. Vor dem Zivilgericht erklärte der Amerikaner nun, er habe die Abtretungserklärung damals nur deshalb unterschrieben, weil Synanon einen erheblichen Druck auf ihn ausgeübt habe.

Synanon ist Deutschlands größte Suchthilfeorganisation und für Rigidität und Härte gegenüber ihren Mitgliedern bekannt. Das Projekt, das 1971 von dem ehemaligen Drogenabhängigen Ingo Warnke in einer Wohngemeinschaft gegründet wurde, expandierte im Laufe der Jahre zu einem riesigen Unternehmen mit 500 Plätzen für ehemalige Abhängige. Heute verfügt Synanon über einen Jahresetat von mehreren Millionen Mark und nennt zwei große bebaute Grundstücke sein eigen: ein Industriegelände in der Herzbergstraße in Lichtenberg sowie ein altes Treuhand-Gut mit 1.360 Hektar im brandenburgischen Dorf Schmerwitz. Die Regeln des streng hierarchisch strukturierten Projekts sind jedoch noch so wie vor 22 Jahren. Wer dies nicht akzeptiert, fliegt raus. Drogen, Tabak und Gewalt sind tabu. Es gibt keine Privatkonten und keinen Privatbesitz. In den ersten sechs Monaten verfügen Neuankömmlinge über keinen Pfennig, danach über ein monatliches Taschengeld von 12,50 Mark, das im Laufe der Zeit auf maximal 175 Mark erhöht wird.

Die Mitglieder arbeiten in einem der diversen Zweckbetriebe der Organisation, wie Bäckerei, Umzugsfirma, Verlag, Computerladen oder im Haus und tragen so zum Unterhalt der Einrichtung bei. Mit einem Teil ihres Verdienstes werden die Schulden aus der Zeit der Drogenabhängigkeit getilgt, ein anderer Teil fließt auf ein Sperrkonto. Wer Synanon verläßt, bekommt eine Starthilfe von 3.000 Mark. Wenn sich mehr Geld auf dem Sperrkonto angesammelt hat, was bei langjähriger Mitgliedschaft und einem Monatslohn von rund 1.800 Mark netto der Fall ist, muß der Betreffende dieses Kapital entweder abtreten oder das Projekt verlassen. Synanon-Mitglieder dürfen sich im Alltag nicht streiten. Sie müssen immer nett und freundlich zueinander sein. Probleme und Konflikte werden bei den sogenannten „Spielen“ ausgetragen. Die Teilnahme an den dreimal in der Woche stattfindenden „Spielen“ ist Pflicht. Für Neue sogar jeden Abend.

Der 50jährige Richard X. kam 1986 von San Francisco zu Synanon nach Berlin, weil er seine Abhängigkeit von Speed loswerden wollte. Bei der Aufnahme mußte er einen Aids-Test machen und erfuhr so, daß er HIV-positiv ist. Richard X. war sechseinhalb Jahre bei Synanon. „Es war für mich lange Zeit ein Zuhause“, erzählte er der taz. Doch 1990 wurde dies anders. Bei einer Radtour in Süddeutschland hatte er bei einem Zusammenstoß mit einem Auto einen Hüftbruch erlitten. Mit Hilfe der Synanon-Anwälte verklagte er den Fahrer erfolgreich auf 15.000 Mark Schmerzensgeld.

Da er nicht gewillt war, das ganze Geld an das Projekt abzutreten, bat er die „Altengruppe“, eine Lösung zu finden. „Ich hatte von Fällen gehört, in denen Synanon- Mitglieder anders mit Geld umgegangen sind. Ich wußte von M., der sein geerbtes Geld in einer Firma angelegt hatte, und von H., die das Geld ihrer Erbschaft für sich behalten wollte“, so Richard X. Ingo Warnke habe jedoch rigoros befunden, „daß ich das Schmerzensgeld abtreten muß, es sei denn, ich zöge aus“. Obwohl er sehr unzufrieden mit diesem Beschluß gewesen sei, habe er die Abtretungserklärungen unterschrieben. „Ich wollte keinen Ärger haben“, so Richard X. Innerlich sei er jedoch vollkommen zerrissen gewesen. Einerseits wollte er bei Synanon bleiben, andererseits gehen. Aber er wußte nicht wohin, und hatte zudem gerade einen zweijährigen Arbeitsvertrag in einem der Zweckbetriebe unterzeichnet.

Außerdem befürchtete er, bei einer gegenteiligen Entscheidung „immer wegen des Geldes auf den Spielen angesprochen zu werden“. Denn auf manchen Spielen „zerfetzen die Mitglieder einen wie Wölfe ihre Beute“. So sei es auch dem langjährigen Mitglied Ulrich Y.* ergangen, der sich geweigert hatte, sein angespartes Geld gegen das geringere Startkapital von 3.000 Mark zu tauschen. „Jeder hielt ihn für einen Verräter.“ Auf den Spielen beschimpfte man ihn als „asoziales Schwein“ und mit „geh doch woandershin fressen“, erinnert sich Richard X. Ulrich Y. konnte dem Druck nach ein paar Monaten nicht mehr widerstehen und zog aus. Heute bezeichnet er das Verhalten von Synanon unverhohlen als „Geldgier und Wegelagerei“. Der Prozeß endete mit einem Sieg für Synanon. Die Kammer unter Richter Langematz konzedierte zwar, daß sich Richard X. bei Synanon in einer schwierigen Situation befunden hatte, bezweifelte aber, daß er die Abtretungserklärung aufgrund einer „widerrechtlichen Drohung“ unterschrieben hatte. Der Prozeß bereitete der Kammer ganz offenkundig große Bauchschmerzen. Darum versucht Richter Langematz auch mit Engelszungen, die Vertreter von Synanon zu einer gütlichen Einigung zu überreden: Ein Schmerzensgeld sei als Ausgleich für entgangene Lebensfreude gedacht, argumentierte er. Selbst bei einem Sozialhilfeempfänger ziehe der Staat dieses nicht von der Stütze ab. Doch die Synanon-Vertreter waren zu keinem Kompromiß bereit. „Es geht um ein einheitliches Therapiekonzept“, weigerte sich der Synanon- Anwalt. Auf die Nachfrage des Richters gab die Synanon-Vertreterin Monika H.* zu, daß in dem Projekt bisweilen durchaus anders als im Fall von Richard X. verfahren werde. Bei einem Mitglied, das ein halbes Haus erbte, sei das Vermögen bis zu einer endgültigen Entscheidung treuhänderisch festgelegt worden. Richard X. habe während seiner Zeit bei Synanon jedoch zwei Heimreisen in die USA finanziert bekommen und sei dadurch gegenüber anderen Mitgliedern „materiell bevorzugt“ worden. Auch als Langematz anregte, die Kosten der USA-Reise von den 15.000 Mark abzuziehen, blieben die Synanon-Vertreter stur. „Sie sind sehr hart“, stellte der Richter resigniert fest, „härter als das Sozialhilferecht.“

Gegenüber der taz verwies Synanon-Vertreter Martin Bloch darauf, die Entscheidung sei mit dem zuständigen Drogenreferenten des Senats abgestimmt. Richard X. habe in den ersten drei Jahren bei Synanon nahezu voll auf Kosten des Projekts gelebt. In den weiteren drei Jahren habe die Gemeinschaft allerdings materiell „mehr von ihm profitiert als umgekehrt“, gab Bloch zu.

Richard X. verließ Synanon im Sommer 1992 und arbeitet heute als Schriftsetzer in einem Berliner Verlag. Sein ehemaliger Meister der Synanon-Setzerei, der das Projekt 1991 verlassen hat, findet für das Verhalten nur ein Wort: „Unmenschlich“. Bei einem Menschen, der HIV-positiv ist, „sollte man doch eigentlich alles tun, um ihm ein glückliches, zumindest finanziell sorgenfreies Rest-Leben zu ermöglichen“.

*Namen geändert