Israelische Fernsehserie Hatufim: Naher Osten als Kriegsgefangener
Hatufim ist die erfolgreichste Fernsehproduktion, die es in Israel je gab. Sie verhandelt das Schicksal israelischer Kriegsgefangner und ist nun auf DVD zu sehen.
Uri Zach und Nimrod Klein stehen auf dem Hof und kichern, als seien sie zwölf. Unglaublich, meint Nimrod zu Uri, was die Leute im Land ihren Kindern für bescheuerte Namen geben. Wer bitte nennt seinen Sohn Chatzav? Chatzav ist der hebräische Name der im Herbst blühenden Meerzwiebel, die zur Familie der Spargelgewächse gehört. In der Generation von Uri und Nimrod, der über Vierzigjährigen, hat man Kindern noch biblische, jüdische Namen gegeben. Inzwischen nennt man sie nach landestypischen Gewächsen. Oder man gibt ihnen Unisexnamen, die das Geschlecht nicht mehr verraten.
Der junge Mann, über dessen Namen sich Nimrod lustig macht, ist sein Sohn. Nach siebzehn Jahren sieht er ihn zum ersten Mal. Als Angehöriger einer israelischen Spezialtruppe ist Nimrod in einen Hinterhalt geraten. Eine islamistische Terrorgruppe hat ihn zusammen mit Uri und einem weiteren Kameraden namens Amiel entführt.
Als Nimrod in den Einsatz im Libanon zog, war seine Frau zum zweiten Mal schwanger. Jetzt ist er wieder frei und mit einer Familie konfrontiert, die er nicht kennt, und mit einer Welt, die er nicht versteht. Was bitte ist das Internet? Nimrod und Uri sind die Helden der israelischen TV-Serie „Hatufim“, auf Deutsch „Entführte“. Man könnte sie als moderne Kaspar-Hauser-Geschichte lesen, wären die Erfahrungen ihrer Protagonisten nicht so brutal.
Umjubelt und fremd
„Die israelische Gesellschaft ist sehr sensibel, wenn es um das Schicksal ihrer Kriegsgefangenen geht. Wir machen Kampagnen für die Freilassung unserer Soldaten und zwingen die Regierung, einen hohen Preis dafür zu bezahlen. Wenn sie zurückkommen, werden sie mit Jubel empfangen. Aber niemand spricht darüber, was danach mit ihnen passiert“, erzählt Gideon Raff, der Erfinder von „Hatufim“, am Telefon. Er ist 1973 geboren, drei Jahre hat er selbst als Fallschirmjäger gedient. Derzeit hält er sich in Los Angeles auf, wo er als Koproduzent von „Homeland“, der US-amerikanischen Version der Geschichte arbeitet.
Vor der Ausstrahlung der ersten Staffel von „Hatufim“ im Jahr 2010 gab es in Israel heftige Diskussionen über die Serie und Proteste, was ihren Erfolg nicht minderte. „Hatufim“ wurde die erfolgreichste israelische Fernsehproduktion, die es je gab. Inzwischen wurde die zweite Staffel gesendet, die dritte wird folgen. Nach jeder Episode riefen Betroffene bei Gideon Raff an, um sich zu bedanken: Sie hätten zum ersten Mal mit ihren Familien und Freunden über ihre Erlebnisse sprechen können.
Im Film sind Uri und Nimrod endlich zu Hause, und zugleich sind sie es nicht. Sie bleiben Gefangene, werden von Erinnerungen und Albträumen aus der Zeit des Ausgeliefertseins, der Dunkelheit und der Folter verfolgt, die in der Serie als Flashbacks erscheinen. Es sind schwer erträgliche Szenen von Gewalt und Erniedrigung, wie sie jeden Tag irgendwo passieren und von denen wir verständlicherweise nichts wissen wollen.
Nicht nur in den Gesellschaften, in denen Folter zielgerichtet eingesetzt oder auch „nur“ geduldet wird, stellt sie den sozialen Zusammenhalt und die Menschlichkeit als solche infrage. Wenn israelische Soldaten ihr Opfer werden, wird das im Land als Wiederkehr des uralten Traumas der Verfolgung erfahren, aber kaum thematisiert. „Das Land möchte ein Happy End sehen, wenn die Gefangenen zurückkommen. In Wahrheit aber gibt es für die Betroffenen kein Happy End“, sagt Gideon Raff.
Nachts schlägt Nimrod um sich, der Körper seiner Frau Talia ist mit blauen Flecken übersät. Er merkt es nicht, sie verheimlicht es vor ihm. Er schläft lieber auf dem Boden als im Bett, so wie er es 17 Jahre lang gewohnt war. Wenn er Stress hat, steckt er den Kopf unter Wasser, bis er das Gefühl hat zu ersticken, oder fügt sich selbst Schmerzen zu, als sei es leichter, mit schwierigen Situationen umzugehen, wenn sie einen erkennbaren Grund haben.
„Schwere posttraumatische Belastungsstörungen sind eigentlich nicht heilbar“, sagt Raff, der mit vielen ehemaligen israelischen Kriegsgefangenen, ihren Angehörigen und Armeepsychologen gesprochen hat. Die meisten der Soldaten wurden im Verlauf des Sechstagekriegs und des Jom-Kippur-Kriegs gefangen genommen. Zwischen 1.000 und 1.500 leben nach Schätzungen heute im Land. Dieser Tage beklagte ein bekannter Veteran des Libanonkriegs, der für seine Tapferkeit ausgezeichnet wurde, im in Israel beliebten Armeeradio, dass die psychischen Verletzungen von Soldaten nur unzureichend erkannt, anerkannt und behandelt würden.
Die Akten der Toten
Als Talia Klein ihren Mann Nimrod zu einer Selbsthilfegruppe zu bringen versucht, kehrt er auf der Türschwelle um. Talia aber setzt sich in die Runde und blickt in die Gesichter von Männern und Frauen, die beim Zuschauer das Gefühl hervorrufen, es nicht mehr mit Schauspielern zu tun zu haben. Tatsächlich hat Gideon Raff ehemalige Kriegsgefangene und Angehörige vor die Kamera geholt. In der Figur des Ilan Feldman, der sich als Verbindungsoffizier um die Angehörigen von vermissten und toten Soldaten kümmert, spiegelt sich die Recherche Raffs im Film wieder. In Ilans Wohnzimmer stapeln sich die Akten der Toten, der Gefangenen und Verschwundenen.
Indem „Hatufim“ vom Schicksal der Kriegsgefangenen und ihren Versuchen erzählt, ein normales Leben zu führen, erzählt die Serie auch von der israelischen Gesellschaft der Gegenwart und ihren Widersprüchen, vom Leben in einem Konflikt, der unlösbar erscheint. „Ganz Israel leidet unter dem Konflikt, in gewisser Hinsicht sind wir alle Kriegsgefangene. Vielleicht ist der gesamte Nahe Osten ein Kriegsgefangener“, sagt Gideon Raff.
Nimrods Sohn Chatzav erzählt seiner Mutter, er wolle auch in einer Kampfeinheit dienen. In Wirklichkeit ignoriert er alle Musterungsbescheide. Die Angst vor der Schmach, eines Tages von der Militärpolizei abgeholt zu werden, ist kleiner als die Angst vor einem Schicksal wie dem seines Vaters. Nach dessen Rückkehr wünscht sich Chatzav sein altes Leben zurück. In einem unbeschwerten Moment freut er sich: „Das ist schön, so wie früher: nur die Familie.“ Seinen Vater zählt er nicht dazu.
Sex als Kompensation
Nimrods Tochter Dana hat aus der Grausamkeit der Situation, in der Menschen in Löchern festgehalten werden, die Konsequenz gezogen, dass die Normen der Gesellschaft nur ein Witz sind. Sie lästert alles, was den anderen heilig ist und verhält sich auf eine Weise, die man geschmacklos nennt, obwohl sie vielleicht nur realistisch ist. Ihre Vaterlosigkeit kompensiert sie damit, sich im Netz mit Männern im Alter ihres Vaters zum Sex auf Autorücksitzen zu verabreden.
Ihr Vater kehrt zurück, kann aber seine Vaterrolle nicht ausfüllen. Der männliche Mann Nimrod kann mit Folter, Gefangenschaft und Rückkehr weitaus weniger gut umgehen als der weiche, sensible, kommunikative Uri. Uri sieht aus wie ein Gestörter, ein bärtiger Hippie mit wirren Haaren, ein alt gewordener Teenager, der Led Zeppelin auf alten Kassetten hört. Und doch ist er zu Gefühlen und Begehren fähig.
Handelt „Hatufim“ auch von einer Krise der Männlichkeit in einer Gesellschaft, in der traditionell weiblich konnotierte Fähigkeiten wie die zu Kommunikation und Empathie zum Imperativ geworden sind? „Absolut“, sagt Gideon Raff und fügt hinzu: „Die gebrochen zurückkehrenden Soldaten können sich nur auf ihre Kameraden verlassen.“
„Hatufim“ spielt wie „Homeland“ mit dem bekannten Stockholm-Syndrom, das die Identifikation von Entführten mit ihren Entführern beschreibt. Gideon Raff gewinnt dem Syndrom eine weitere Dimension ab. Nimrod und Uri sprechen fließend Arabisch. Als sie auf der Recherche zum Tod ihres Kameraden eine arabische Familie im Norden Israels aufsuchen, wünscht die Mutter, die ihren Mann verloren hat, ihnen den Tod. Trotzdem kommt es zu einer Art von Verständigung und Austausch. Im Nahen Osten leben alle in enger Nachbarschaft.
Könnte es sein, dass die Gewalt eine eigene Art des Verständnisses hervorbringt für die Verluste, den Schmerz und den Hass der anderen? „Ich denke, ja“, sagt Gideon Raff. „Die Nähe der verschiedenen Gruppen zueinander ist sehr wichtig. Man kann in dieser Szene das Verständnis für den anderen in den Augen der Protagonisten sehen. Diesen Teil der Storyline führe ich in der zweiten Staffel fort, weil er mir sehr wichtig ist.“
■ Die erste Staffel von „Hatufim – In der Hand des Feindes“ ist seit Donnerstag auf DVD erhältlich
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?