: Ironisches Melodrama
■ Deutschsprachige Erstaufführung von Nelson Rodriguez‘ „Der Mann mit dem goldenen Gebiß“ in Köln
Daß es auch in Lateinamerika Theater gibt, hat sich herumgesprochen. Aber lateinamerikanische Stücke sind immer noch selten in unseren Theatern. Das Schauspiel Köln pflegt als eines der wenigen deutschen Theater lateinamerikanische Autoren. Augusto Boal, Gabriel Garcia Marquez und Nelson Rodriguez standen in den letzten Jahren auf dem Spielplan; mit Rodriguez‘ Kuß im Rinnstein eröffnete man in Köln die letzte Spielzeit. Dieser Boulevardreißer über Schwulenhatz und Revolverjournalismus war nach Barschel -Affäre und Oberhausener Geiseldrama das Stück der Stunde. Damals wollte man noch mehr von diesem so unbekümmert zupackenden Dramatiker sehen.
Der Brasilianer Nelson Rodriguez (1912-1980) war eigentlich Journalist, und seine Dramen, mit denen er das Theater seines Landes revolutionierte und die Öffentlichkeit schockierte, vollführen Journalistendramatik im besten Sinne: direkt, spektakulär, wirkungsvoll. Das 1960 uraufgeführte Stück Der Mann mit dem goldenen Gebiß ist eine Vorstadttragödie aus Rio de Janeiro, ein tragischer Comic, geschmacklos, brutal, kitschig und sentimental - wie das zum Genre gehört. Boca de Ouro, der Mann mit dem goldenen Gebiß, ist ein Mythos der brasilianischen Slums, ein Starverbrecher: der Ärmste der Armen und doch der Stolzeste von allen, er nimmt und gibt, was er will, wird reich und gefürchtet - ein Robin Hood, ein Schinderhannes, ein Al Capone.
Der Volksheld, der negative Heilige, der gute Egoist - nun ist er tot. Seine ehemalige Geliebte erzählt drei verschiedene Versionen ein- und desselben Mordfalles, in den Boca de Ouro verwickelt war: der Held als zynisches Monster, der Held als machistischer Supermann, der Held als Hosenscheißer. Am Ende liegt da immer dieselbe Leiche, aber der Mörder ist immer ein anderer. Die Wahrheit über Boca de Ouro? Die Wahrheit ist: Boca de Ouro ist eine Fiktion, eine Projektion des kollektiven Unbewußten, deren sich die Presse bedient. Rodriguez wird zum Dreigroschen-Pirandello und verquirlt Sein und Schein im Medienzeitalter.
Die Kölner Erstaufführung (Regie: Frank Hoffmann) in der Schlosserei des Schauspielhauses spielt das schnell, grell und grotesk. Schreiend bunte Kostüme, clowneske Schminkmasken und demonstrative Körpersprache sollen südländisches Volkstheater zitieren. Der arme, alte Neger, die stiernackigen Gorillas, das unschuldige Kind aus dem Volk, die vulgäre Matrone, der verängstigte Hahnrei - alle diese Klischees werden sowohl bedient als auch verfremdet, als Klischees ausgestellt. Das ist gut gedacht und nicht schlecht gemacht. Peter Gavajda jedenfalls spielt den Boca de Ouro so gefährlich geschmeidig, mit Spaß an kleinen Tricks, brutal berechnend und kindlich naiv, daß man das Urbild lateinamerikanischer Männlichkeit erahnen kann. Dennoch läßt die effektsichere Inszenierung kalt.
Eine Zeitungsredaktion: zwei junge Journalisten arbeiten dort, Brüder offensichtlich. Der eine telephoniert, der andere redigiert einen Text. Eine Frau betritt die Redaktion, verlangt den Chef zu sprechen oder einen seiner Söhne. Der Schuß, der dem Verleger galt, trifft den älteren der Brüder tödlich.
Das könnte eine Szene aus einem von Rodriguez‘ Stücken sein. Es ist aber eine Szene aus seinem Leben. Er war 17, als sein Bruder aufgrund einer Verwechslung ermordet wurde. Ein brasilianischer Regisseur sagte vor einigen Jahren bei einem Gastspiel in Deutschland: „Wer glaubt, was Rodriguez schreibt, sei melodramatisch, der kennt die brasilianische Realität nicht.“ Die brasilianische Realität ist uns fremd. So wird aus Rodriguez‘ teatro desagradavel, dem unangenehmen, peinlichen Theater, das den Zuschauer aufrütteln soll, schickes Schauertheater.
Gerhard Preußer
Weitere Vorstellungen am 17., 23. und 29. Dezember
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