: „Irgendwann ist es einem egal, was mit den armen Menschen in Südamerika passiert“
Geboren am 1. November 1962 in Bad Salzuflen, Ostwestfalen. Gitarrist, Sänger, Entertainer. Erste Erfolge 1987 mit seiner Band Die Antwort, mit der er sein erstes Album produzierte. Aus seinem Umfeld, durch und von ihm inspiriert, sind Chartsberühmtheiten wie Blumfeld hervorgegangen. Bernd im Bademantel hieß seine NDR-Sendung, in die er als guter Geist der neorealistischen Glamourschule Hamburgs, Bands wie Tocotronic einlud. Seit 2004 ist er mit seiner Gruppe Die Befreiung unterwegs. Begemann, der durch den NDR-Regisseur Horst Königstein gefördert wurde, spielte unter anderem 1996 in dessen Film „Liane“ mit, der Geschichte des deutschen Fünfzigerjahremädchens Liane. Begemann liebt es, am Steuer eines Autos zu sitzen, er schätzt das Leben „On the Road“. Inzwischen ist er Vater eines Kindes und lebt in Hamburg. Jüngstes Album: Glanz, bei Tapete Records erschienen. Tourneeinfos unter www.bernd-begemann.de JAF
Der Popmusiker Bernd Begemann summt mit Mitte 40 neuerdings die Nationalhymne mit, möchte nirgendwo anders leben als in Deutschland, hat keine Erwartungen an Schwarz-Grün in Hamburg, nichts gespart für das Studium seiner Tochter, respektiert Helmut Kohl und Ex-Playmates - und weiß heute, dass Helmut Schmidt nur unser Bestes wollte. Hallo?
INTERVIEW JAN FEDDERSEN UND PETER UNFRIED
taz.mag: Herr Begemann, gibt es etwas, was Sie gerade ärgert?
Bernd Begemann: Ja. Wenn ich mir bewusst mache, dass meine Lieder Volkslieder sein könnten, aber es nicht sind, das ärgert mich. Ein bisschen. Wenn einen das nicht zwicken würde, wäre man wohl nicht mehr produktiv. All die kleinen Zufälle und Missgeschicke, die passiert sind, im Laufe des Lebens … wenn es anders gelaufen wäre, dann könnten Sie beide jetzt Top-Romanciers sein und vielleicht … mit Thea Dorn schlafen!
Wäre das möglich?
Also, unter uns: Das ist ein knallhart kalkulierender Knochen, diese Thea Dorn. Sie erkennt zum Beispiel, dass Alice Schwarzer keine richtige Gegnerin hat, also übernimmt sie das.
Respekt?
Klar. Ich respektiere auch Helmut Kohl, sogar fast mehr als die, die ich dann gewählt habe. Man sieht doch heute, dass alle, die sich über Kohl lustig gemacht haben, Idioten waren, die nicht verstanden haben, wie tough der in Wirklichkeit war. Die haben sich von seinem Äußeren blenden lassen.
Über Merkel macht sich kaum einer mehr lustig. Haben wir dazugelernt?
Sie kommt auch ziemlich entschlossen rüber. Ich glaube schon, dass sie eine respektierte Kanzlerin sein wird. Aber sie ist ein bisschen … na ja. Ich weiß nicht, ich bin viel unterwegs. Und neulich stellte ich bei mir so eine Art „hilflosen Patriotismus“ fest.
Wie das?
Ich fuhr von einem Club zurück ins Hotel, fühlte mich ein bisschen müde und einsam. Dann hörte ich auf Deutschlandfunk die Nationalhymne. Da fühlte ich mich beruhigt, aufgehoben.
Von der Nationalhymne!?
Mein Gott, ja, ich habe diese Hymne mitgesummt! Die dritte Strophe. Ich fühle mich zumindest ein bisschen zugehörig. Und als Songschreiber muss ich sagen: Das ist ein schönes Lied.
Warum fühlten Sie sich aufgehoben?
„Aufgehoben“ ist vielleicht das falsche Wort. Aber zumindest wusste ich, dass ich bei etwas mitmachen darf. Weil ich gewählt habe, weil ich Steuern bezahle, weil ich die Institutionen in Anspruch nehme. Wenn ich gegen einen Baum fahre, wird ein Krankenwagen kommen und mich in ein Krankenhaus fahren. Dort werde ich vermutlich gut versorgt werden. Das ist beruhigend. Gerade für einen fahrenden Poeten.
Sie mögen Deutschland?
Ich habe mit Ted Gaier von den Goldenen Zitronen, die ich sehr respektiere, darüber gesprochen. Die haben so einen Song: Diese alte Geschichte mit dem faschistischen Terrorregime Deutschland. Ich sagte: Mann, ich weiß nicht, wovon ihr sprecht. Leute, die heute in einem faschistischen Terrorregime leben, würden ihren linken Arm hergeben, um in Deutschland leben zu dürfen! Buchstäblich. Danach hat er nicht mehr mit mir gesprochen, weil er es faschistisch findet, die faschistische Kontinuität nicht zu sehen.
Wie verhalten Sie sich zu den gesellschaftlichen und globalen Entwicklungen?
Ähm. Ich persönlich bin immer dann extrem unzufrieden, wenn ich mich nirgends mehr hinwenden kann. Wenn ich keinen Ort mehr erblicke, den anzustreben sich lohnt. Diesen Zustand hatte ich schon ein paarmal in meinem Leben. Ich glaube fast, der ist losgelöst von allgemeinen Entwicklungen.
Was ist Ihr Traum von Heimat oder Zuhause?
Eigentlich habe ich immer von einer Gemeinschaft geträumt, die ihre Mitglieder nicht beschneidet. Ich glaube das ist ein Traum, den wirklich viele Menschen hatten. Man hat die Gemeinschaft immer als etwas Schützendes erlebt und immer auch als etwas Beschränkendes. Ich möchte Teil einer Gemeinschaft sein, die mich nicht beschränkt, sondern erhöht. Das war eine Utopie. Ich dachte immer, die Band sei eine Utopie. Ich dachte immer, eine Band sei die Familie, die man sich aussucht. Und nicht eine, die das Schicksal für einen sucht.
2004 sangen Sie dann ein desillusioniertes Lied: „Unsere Band ist am Ende“.
Das meint aber nicht meine aktuelle Band. Wir sind sehr glücklich miteinander! Alle sind sehr klug, wir haben zum Beispiel anregende Diskussionen über griechische Mythologie im Tourbus. Mit den Bands davor habe ich fast ausschließlich Ingmar-Bergman-artige Psychodramen erlebt. Da liefen quälende, sadomasochistische Sachen. Es war nicht nur schön! Aber ich habe meinen Frieden gemacht.
Mit wem?
Von einem Mann wird erwartet, dass er seinen Frieden macht. Dass du dich einfach wohlfühlst an einem Ort und es auf sich beruhen lassen kannst. Auf eine Art sind deshalb alle Künstler die armseligsten Würstchen überhaupt. Weil es Menschen sind, die es nicht auf sich beruhen lassen können. Die können es nicht einfach schlucken und die Klappe halten. Nein! Die müssen reagieren! Einen Roman schreiben, eine flammende Anklage, irgendwas, oder sie müssen es ästhetisieren.
Das Leben?
Das, was für die anderen Menschen nur Schmerz ist, müssen Künstler ästhetisieren. Was für andere Menschen eine stille Freude ist, muss für Künstler eine laute Freude werden. Au Mann! Aber – wir verachten Künstler nicht. Wir wissen, ohne sie würden wir gar nichts erkennen. Es gibt nur Fortschritt, weil Leute etwas nicht auf sich beruhen lassen können.
Was lassen Sie denn mittlerweile auf sich beruhen?
Das, was mich ausmacht, der Teil, mit dem ihr sprecht, das ist der Teil, der es nicht so stehen lassen konnte. Die richtigen Menschen, das Salz der Erde, die Leute, die neben uns in der U-Bahn sitzen, das sind Menschen, die buddhistischer sind als ich. Die alles hinnehmen konnten. Die gesehen haben, wie es ist, und nicht empört waren. Ich weiß nicht, kann man da biologistisch argumentieren? Ist es angeboren? Es wird immer welche geben, für die es okay so ist. Die ruhig bleiben können. Und andere, die das beim besten Willen nicht können. Auch wenn sie wissen, dass es besser wäre.
Treibt Sie das um?
Es macht mich nicht wirklich rasend. Aber ich sehe, dass ich mich nicht wirklich einreihen kann. Ich habe es versucht. Deshalb besteht ein Teil meiner Musik darin: Ich will ihnen sagen, dass ich nicht komplett fremd bin. Will ihnen sagen: Ich habe dieselben Probleme wie ihr. Ich bin der Anti-Tocotronic-Typ.
Was heißt das?
Bei Tocotronic geht es um das Sichabgrenzen. Bei Tocotronic hast du einen Sprecher, der fühlt sich mitten unter den anderen und will da nicht wirklich dazugehören. Und ich stehe außerhalb und will dazugehören. Ich weiß, dass es nicht geht, aber ich möchte, dass sie mich nicht unheimlich finden, damit ich nicht an einem Laternenmast baumle.
Plagen Sie Dämonen?
Ich war immer recht ausgeglichen. Ich habe nie eine Therapie gebraucht.
Glückliche Kindheit?
Ich bin ein Adoptivkind, ich war ein bisschen dunkelhäutiger als die anderen um mich herum. Das waren Musterwestfalen. Und ich habe mich für andere Sachen interessiert. Das Erste, was ich gelesen habe, war die Jugendversion der Ilias. Eine gewalttätige Geschichte. Und die andern haben eben „Die Jungen von Burg Schreckenstein“ gelesen.
Wir auch.
Ja, ich habe das dann auch gelesen, ich habe alles gelesen. Aber Odysseus war mein Held. Oder diese Leute, die aus völlig sinnlosen Gründen einen Krieg beginnen, aus denen dann wieder tolle Geschichten entstehen: sinnlose Irrfahrten machen. Ich meine, das Mittelmeer ist echt nicht so groß, wieso dauerte das 20 Jahre? Weil die sich ein bisschen amüsieren wollten, ist doch klar.
Sie kommen aus Bad Salzuflen?
Ja, ich bin Mittelständler …
… also FDP-Wähler?
Nö, das wäre schon oberer Mittelstand. Mein Vater ist Tierarzt, eigentlich so das Stamm-CDU-Publikum. Mein Vater hat erlebt, dass in der Nachkriegszeit praktisch über Nacht alles besser wurde. Durch den klugen Ludwig Erhard. Deshalb ist er emotional mit der CDU verbunden. Das ist eine Affinität, die ich respektiere und nachvollziehen kann. Aber sein Herz ist grün. Er ist extrem naturverbunden und mag Atomkraftwerke nicht und auch Industrien nicht wirklich. Mein Vater war im Prinzip schon immer ein verkappter Schwarz-Grüner.
Die Freie und Hansestadt Hamburg wird nun von Schwarz-Grün regiert. Sind Sie gespannt, was passieren wird?
Nein, ich bin nicht gespannt. Es wird ein bisschen was passieren und ein bisschen was schiefgehen.
Eine Frage an den Wahlhamburger: Wie hat sich das Schanzenviertel in Ihrer Wahrnehmung verändert?
Alle haben Kinder, und alle sorgen sich um ihre Kinder. Und viele mussten sogar Kredite abbezahlen. Und irgendwann ist einem dann egal, was mit den armen Menschen in Südamerika passiert. Okay, jetzt habe ich es gesagt.
Sie sind auch Vater geworden.
Meine Tochter ist eine große Freude und eine exquisite Verantwortung und eine Zumutung. Man ist verantwortlich für jemanden, der sich völlig unverantwortlich benimmt!
Was hat sich verändert?
Ich toure nicht mehr drei Monate am Stück, sondern vielleicht nur noch eine Woche oder zehn Tage am Stück. Unterm Strich heißt das: mehr Fahrerei, mehr Ferngespräche. Aber ich habe jetzt so eine Mobil-Flatrate, und das ist eine wirklich große Verbesserung im Touralltag!
Sie sind der Held Ihrer Tochter?
Sie hat mich ein paarmal auf der Bühne gesehen. Oh, mein Gott, ich habe sogar begonnen, Kinderlieder zu schreiben. Und einmal auf der Bühne, da habe ich ein Duett gesungen, mit einer wirklich fantastischen Sängerin. Und da haben wir so ein bisschen … so Cindy&Bert-mäßig, Kopf an Kopf gesungen. Meine Tochter Belinda war total eifersüchtig! Ich meinte dann zu ihr, hey, das ist Showbusiness …
Kinder sind ja gern mal sehr konservativ und würden vermutlich CDU wählen.
Ach, die CDU ist ja nicht mal so richtig konservativ. Kommunisten sind sehr konservativ.
Irgendwann müssen Sie das Studium Ihrer Tochter finanzieren.
Hm, na ja. Mal gucken! Meine Güte. Ich habe jetzt nicht wirklich was gespart. Das wird schon irgendwie gehen
Ist das Leben schön?
Ja, natürlich. Weil: Was ist die Alternative? Nicht leben? Ist das schön? Nääh!
Glauben Sie an einen Gott?
Hm.
Herr Begemann?
Ich bin ein altmodischer Agnostiker. Ich glaube auf jeden Fall an die Kraft der biblischen Geschichten. Das sind fantastische Geschichten. Die sind immer noch die Basis für fast alles, was wir so im Fernsehen und im Kino sehen. Auf jeden Fall glaube ich an das Bedürfnis nach Gott. Jeder Mensch glaubt definitiv an irgendwas. Glaubt ihr an Gott?
Wir glauben an die Liebe.
Na ja, das haben alle Poeten irgendwann mal gesagt. Goethe hat gesagt: Glücklich ist allein das Herz, das liebt. Und ich sang in irgendeinem Lied: Ich habe fast nichts zu sagen, außer dass man erst dann lebt, wenn man liebt.
Also, woran glauben Sie?
Ich glaube an eine Sache: die geistige Evolution. Ich glaube, dass Menschen sich verändern, dass der menschliche Geist sich verändert. Wir sind physisch größer als die Menschen im Mittelalter, und unsere geistige Kapazität verändert sich auch. Wir müssen heute mit so viel mehr Dingen klarkommen als unsere Großeltern. Und wenn du das erst vergleichst mit dem, was Menschen vor 20.000 Jahren gemacht haben. Und wie beschränkt deren Welt war, und wie reich unsere Welt ist. Wie reich könnte die Welt in 20.000 Jahren sein? Der Mensch wird wahrscheinlich wachsen. Er wird empathischer, als er es je zuvor war, klüger, fähiger.
Das glauben Sie?
Das sind Sachen, die man noch nicht weiß, also muss man an sie glauben. Ein charmanter Gedanke. Der charmanteste Gedanke ist, dass Leute als Wissenschaftler oder Künstler oder vielleicht sogar Polizisten an unserer geistigen Evolution mitarbeiten und sie fördern auf ihrem jeweiligen kleinen Acker.
Können Sie das vertiefen?
Wir brauchen einen Plan. Eine Idee. Und diese Idee bekommen wir nur an einem Ort. Dieser Ort heißt: Liebe. Wenn ihr Liebe erlebt habt, dann wisst ihr, dass das ein einzigartiger Zustand war, der sich nicht wiederholen lässt. Sogar wenn ihr mit dem Menschen zusammenbleibt, mit dem ihr dieses Liebeserlebnis hattet, wird es nicht fassbar, nicht wirklich greifbar. Ihr wisst, dass ihr eine erhöhte Existenz erleben durftet, für eine kurze Zeit. Vielleicht. Was die ganze Tragik und den Schmerz der Liebe ausmacht: Man kann durch die Tür blicken, aber nicht wirklich hineingehen. Man sieht, wie großartig Menschen sein könnten, aber man kann dieser Mensch noch nicht werden. Das ist das Problem, das wir mit uns rumschleppen.
Und nun?
Dafür haben wir das Lied. Das Lied tröstet uns, begleitet uns, sagt uns, dass es okay ist, dass wir nicht das werden können, was für uns schon vorstellbar ist. Ich glaube an das Lied. Lieder sind für mich wichtiger als jede andere Kunst, weil sie uns auch das bewahren können, was uns ausmacht.
Ihr Song „Bist du dabei“ bewahrt tatsächlich die zentralen Stunden meiner Spätjugend.
Willkommen! „Bist du dabei“ ist ein deutscher Provinz-Autofahrsong. Du bist nicht Chuck Berry, du bist nicht mit diesem Fünfzigerjahreschlitten unterwegs, aber du hast zumindest einen Volkswagen und möchtest irgendwohin. Hier geht es um diese zusammengewürfelte Schicksalsgemeinschaft von jungen Männern, die etwas losmachen wollen, doch überhaupt keinen Plan haben. Das ist meine Herkunft, was ich erlebt habe. Und das hat niemand für mich bewahrt. Also musste ich es für mich bewahren. Und ich war mir sicher, dass es vielen so geht! Das macht uns aus, das hat uns geformt. Man wächst an verschiedenen Orten auf, aber man kommt im Grunde aus einem Ort. Na ja. Ich hoffe, ein paar von den Sachen haben wir jetzt mit den Neuaufnahmen klarer gemacht. Das ist die Idee der neuen CD: dass man etwas klarer macht.
In einem früheren Interview mit uns sagten Sie, sie müssten zugunsten der Kunst auf Kinder verzichten.
Vielleicht war das die entscheidende Hybris. Vielleicht ist das der Punkt, wieder an Gott zu glauben. Vielleicht sagte er an diesem Punkt: So, so Bernd … das wollen wir doch mal sehen! Lektion gelernt. Aber früh aufstehen ist immer Scheiße, egal in welchem Alter. Zum richtigen Zeitpunkt ist immer zum falschen Zeitpunkt. Ich bin aber froh, dass ich nicht mit Mitte sechzig gezeugt habe. Mit einem Ex-Playmate. Aber das ist nicht wirklich unsere Welt, oder?
Wieso Ex-Playmate?
Du kannst sie ja nicht als Playmate heiraten. Weil die sind ja in ihrer Playboy-Welt drin. Du musst sie dir greifen, wenn sie aus der Zirkulation rausgefallen sind. Das wäre mein Tipp!
Wer war Ihr Lieblingsplaymate ever?
Uschi Buchfellner. Miss Oktober 1979 im US-Playboy. Die hat auch in ein paar Filmen gespielt, „Jungfrau unter Kannibalen“, glaube ich. Den habe ich mal auf VHS geguckt. Da tat sie mir immer so leid. Sie war so ein süßes, argloses Mädchen bei diesen furchtbaren Dreharbeiten, in echtem Schlamm …
Schönes Äußeres gleich schönes Inneres. Richtig oder falsch?
Richtig. Mein Lieblings-Oscar-Wilde-Zitat lautet: Es ist total oberflächlich, einen Menschen nicht nach seinem Äußeren zu beurteilen. Als ich dieses Bonmot neulich zum Besten gab, sagte Frank Spilker von Die Sterne gleich so Anti-Oscar-Wilde-mäßig: Bei Wilde ist alles so oberflächlich! Die gute alte marxistische Kritik. Aber ich denke, es gibt ein paar Schriftsteller oder Künstler, die Befreier sind. Und Oscar Wilde gehört dazu, er hat bestimmt mehr Menschen befreit als Karl Marx. In Deutschland hat das, in abgemilderter Form, Hermann Hesse erreicht. Für die Nachkriegsgeneration war das der Mann.
Warum Hesse?
Weil er sagte: Du bist dir gegenüber verantwortlich. Nicht einer Idee oder dem Staat oder dem Vaterland. Das hat gesessen, das musste man erst mal verdauen. Das ist ein schwieriges Vermächtnis. Es ist eigentlich einfacher, dem Vaterland gegenüber verantwortlich zu sein, als sich selbst. Man kann im Grunde die 68er auch so sehen, dass sie diese Aufforderung ernst genommen haben und dass sie sie eingefordert haben. Verantwortlich zu sein ist in Wirklichkeit die schwerste Sache.
Sie sind eigentlich ein Anti-68er, weil Sie von niemandem verlangen, dass er sich ändert. Stimmt das?
Jeder soll machen, was er macht. Meine Güte! Warum sollte man von jemand verlangen, dass er sich künstlerisch ausdrückt? Dann besucht er einen Töpferkurs, und das macht ihn unglücklich. Soll er doch im eigenen Saft brühen oder Fernseh gucken, das ist doch alles in Ordnung.
Die Arbeiter sollten aber doch aufstehen!
Ja, da haben sie aber drauf geschissen. Und zwar zu Recht. Was ist das auch bitte für eine unglaubliche Frechheit, Leuten zu sagen, dass sie stumpf sind und dass sie jetzt alles ganz anders machen wollen. Wie Nazi ist das!
Sind Sie etwa Götz-Aly-Fan?
Da bin ich losgelöst von diesem Diskurs. Aber ich hatte viele Jobs, und ich war in einigen Betrieben. Und jetzt hier, vor Zeugen, vor laufendem Tape, kann ich sagen: Viele Arbeiter, die ich getroffen habe, sind weniger stumpf als viele Studenten, die ich getroffen habe. Und: können auch besser diskutieren. Haben die besseren Argumente, haben sogar einen tieferen Wortschatz. Vor allem sind sie in der Lage, sich in Menschen reinzuversetzen. Was ich gar nicht so schlecht finde, wenn man etwas verändern will. Also, ich fühle für empörte Studenten 1968, und ich fühle für Arbeiter, die wissen, dass deren Probleme nicht ihre Probleme sind.
Die marxistisch organisierten Studenten standen in den 70ern sogar früh auf, um in Betrieben zu agitieren.
Das verdient Respekt, aber die haben sich ja nur kaputt gemacht. Helmut Schmidt hat dann das Schlimmste verhindert. Mit seiner Erfahrung aus dem Krieg dachte er zu wissen, dass man den Russen nicht zu sehr entgegenkommen sollte …
Sie haben wirklich Ihren Frieden mit Deutschland gemacht. Oder?
Ich muss sogar noch weiter gehen. Ich glaube, ich werde mit den Jahren immer unfähiger, woanders zu leben. Das ist bestimmt auch ein Anzeichen von geistiger Immobilität und intellektueller Schwäche. In einer Region, in der mit starkem Akzent gesprochen wird, kann ich es nicht lange aushalten.
Lassen Sie uns raten: bei den Schwaben?
Ich werde schon nervös, wenn ich in Frankfurt bin und höre, wie die Leute dort reden. Die Leute südlich von Hannover sind eh sehr schwer zu verstehen.
Wo wollen Sie hin?
Mal gucken.
Wohin?
Wie das bei mir so ist in fünf Jahren. Im Moment ist es so, dass ich mich entweder um mein Kind kümmere oder unterwegs bin. Meine Miete verdienen. Das ist ein ordentlicher Rhythmus. Aber ich bin nicht geneigt, etwas in Stein zu meißeln. Außer: Man muss sich um sein Kind kümmern. Das ist in Stein gemeißelt.
Kinder sind auch eine gute Entschuldigung.
Ja. Endlich nicht mehr ausgehen müssen. Endlich muss ich diesen Scheiß nicht mehr mitmachen. Endlich muss ich nicht mehr so tun, als würd ich diese Hype-Band so toll finden. Endlich muss ich mich nicht mehr sehen lassen auf diesen Halbevents, die von meinen ermüdenden Freunden aufgezogen werden. Oh … das habe ich schon öfter gehört.
Sie gehen noch aus?
Ich gehe immer noch gerne aus. Und dass andere Leute gerne ausgehen, ist bei Lichte besehen die Basis meines Gewerbes. Wenn die Leute nicht mehr gerne ausgehen würden, wenn sie keine Hoffnung mehr hätten, dass da irgendwas wartet auf sie, dass da etwas Aufregendes passieren könnte, dann … war’s das. Dann wird es keine Musik mehr geben.
Die taz-Redakteure JAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, und PETER UNFRIED, Jahrgang 1963, sind bekennende Begemann-Fans und tragen viele schöne, je verschiedene Lieder in ihrem Herzen